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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Truppen wenigstens mit sympathischen Rufen begrüßt, hier verharrte Alles
in düstrem Schweigen, oder es wurde offen geklagt über die Kopflosigkeit
der eigenen Regierung; ja man schien vielfach den Einmarsch der Preußen
mit Ungeduld zu erwarten; sie würden rasch Ordnung schaffen, bemerkte ein
behäbiger Bürger, der mit Unbehagen dem Ganzen zusah und sich dabei er¬
innerte an die Früchte, welche der enge Anschluß Kurhesseus an Oesterreich
16 Jahre vorher dem Lande gebracht habe; die Brigade Kalik, die vor
wenigen Tagen auch durch Cassel passirt war, hatte hier noch etwas weniger
Sympathie gefunden, als in Hannover.

Während hier der Anfang des Endes deutlich sich zeigte, eröffnete sich
für mich eine Möglichkeit, in der Richtung auf Göttingen und Magdeburg
Cassel zu verlassen. Um 12 Uhr, erklärte der Bahnhofsinspector, der bei dem
allgemeinen Wirrwarr kaum noch wußte, wo ihm der Kopf stand, gehe ein
Zug nach Norden ab, wenn bis dahin nicht Gegenbefehl einlaufe. In pein¬
lichen Zweifeln verfloß die Zeit, doch der Zug fuhr vor, die Locomotive stand
fertig, zahlreiche Reisende wollten diese vielleicht letzte Gelegenheit zur Ab¬
fahrt benutzen. Da lies ein Zug von Norden her im Bahnhofe ein; Alles
umdrängte die Reisenden und Conducteure, horchte gespannt auf Kunde von
dort. "Die Preußen sind in Hannover", so hieß es bald überall*). Der
Eindruck war tief und erschütternd. Dort war also schon Alles vorüber, das
Land, die Hauptstadt occupirt. Die Armee zusammengedrängt im südlichsten
Winkel des Staats, ohne sichere Aussicht sich nach dem Süden zu retten.
Und mit ganzer Gewalt trat wieder die Frage an mich heran: Wie steht es
w Sachsen?" Endlich, endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Als er die
hessische Grenze überschritten, zeigten sich an allen Stationen bis Göttingen
dichte Trupps hannöverscher Soldaten; noch schien also der Vormarsch nach
dem Süden nicht angetreten zu sein. In Göttingen auf dem Bahnhofe das¬
selbe Schauspiel wie gestern, Truppen, Wagen und Geschütze in langer Reihe;
nördlich der Stadt, so wurde erzählt, seien Batterien aufgefahren, um einem
etwaigen Anmärsche der Preußen entgegenzutreten, auch die prächtigen hannö-
verschen Reiterregiementer waren in Göttingen eingerückt, die Urlauber und
Reservisten in aufopfernder Treue gegen ihren Eid oft auf weiten Umwegen
zum Heere ihres Königs gestoßen; man fing an zu glauben, daß es um
Göttingen zum Schlagen kommen werde. Daher verließ die Stadt wen nicht
Familie oder Beruf dort fesselten, denn schon verbreitete sich auch das Ge¬
rücht, die Bahnverbindung nach dem Norden sei unterbrochen oder solle unter¬
brochen werden. Doch kam der Zug glücklich ohne Aufenthalt bis nach



') Die Nachricht war allerdings verfrüht, aber in der That rückte General v. Fulkcnstein
on am 1?. Abends in Hannover ein.

Truppen wenigstens mit sympathischen Rufen begrüßt, hier verharrte Alles
in düstrem Schweigen, oder es wurde offen geklagt über die Kopflosigkeit
der eigenen Regierung; ja man schien vielfach den Einmarsch der Preußen
mit Ungeduld zu erwarten; sie würden rasch Ordnung schaffen, bemerkte ein
behäbiger Bürger, der mit Unbehagen dem Ganzen zusah und sich dabei er¬
innerte an die Früchte, welche der enge Anschluß Kurhesseus an Oesterreich
16 Jahre vorher dem Lande gebracht habe; die Brigade Kalik, die vor
wenigen Tagen auch durch Cassel passirt war, hatte hier noch etwas weniger
Sympathie gefunden, als in Hannover.

Während hier der Anfang des Endes deutlich sich zeigte, eröffnete sich
für mich eine Möglichkeit, in der Richtung auf Göttingen und Magdeburg
Cassel zu verlassen. Um 12 Uhr, erklärte der Bahnhofsinspector, der bei dem
allgemeinen Wirrwarr kaum noch wußte, wo ihm der Kopf stand, gehe ein
Zug nach Norden ab, wenn bis dahin nicht Gegenbefehl einlaufe. In pein¬
lichen Zweifeln verfloß die Zeit, doch der Zug fuhr vor, die Locomotive stand
fertig, zahlreiche Reisende wollten diese vielleicht letzte Gelegenheit zur Ab¬
fahrt benutzen. Da lies ein Zug von Norden her im Bahnhofe ein; Alles
umdrängte die Reisenden und Conducteure, horchte gespannt auf Kunde von
dort. „Die Preußen sind in Hannover", so hieß es bald überall*). Der
Eindruck war tief und erschütternd. Dort war also schon Alles vorüber, das
Land, die Hauptstadt occupirt. Die Armee zusammengedrängt im südlichsten
Winkel des Staats, ohne sichere Aussicht sich nach dem Süden zu retten.
Und mit ganzer Gewalt trat wieder die Frage an mich heran: Wie steht es
w Sachsen?" Endlich, endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Als er die
hessische Grenze überschritten, zeigten sich an allen Stationen bis Göttingen
dichte Trupps hannöverscher Soldaten; noch schien also der Vormarsch nach
dem Süden nicht angetreten zu sein. In Göttingen auf dem Bahnhofe das¬
selbe Schauspiel wie gestern, Truppen, Wagen und Geschütze in langer Reihe;
nördlich der Stadt, so wurde erzählt, seien Batterien aufgefahren, um einem
etwaigen Anmärsche der Preußen entgegenzutreten, auch die prächtigen hannö-
verschen Reiterregiementer waren in Göttingen eingerückt, die Urlauber und
Reservisten in aufopfernder Treue gegen ihren Eid oft auf weiten Umwegen
zum Heere ihres Königs gestoßen; man fing an zu glauben, daß es um
Göttingen zum Schlagen kommen werde. Daher verließ die Stadt wen nicht
Familie oder Beruf dort fesselten, denn schon verbreitete sich auch das Ge¬
rücht, die Bahnverbindung nach dem Norden sei unterbrochen oder solle unter¬
brochen werden. Doch kam der Zug glücklich ohne Aufenthalt bis nach



') Die Nachricht war allerdings verfrüht, aber in der That rückte General v. Fulkcnstein
on am 1?. Abends in Hannover ein.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/483>, abgerufen am 27.11.2024.