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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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in ungebildeten und halbgebildeter Kreisen Sensation gemacht hat, dafür
spricht auch wohl die Notiz, die vor Kurzem im Figaro zu lesen war, daß
Louis Blanc mit diesem nämlichen Buch unterm Arm öffentlich gesehen
worden sei.

Diesem äußern Umstände also allein hat es der Herr Tissot zu verdanken,
daß wir Deutschen uns mit seinem Werk beschäftigen wollen. Ehe wir uns
daran machen, dasselbe in seinen einzelnen Theilen vorzuführen, müssen wir
uns über die Motive aussprechen, die den Verfasser bei der Abfassung desselben
geleitet haben. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß glühender Haß
dem Herrn Tissot die Feder in die Hand gedrückt habe, bald aber beginnt
man, angesichts der sich Hausenten Abgeschmacktheiten und plumpen Erfin¬
dungen, an der Echtheit desselben zu zweifeln; denn überzeugungstreuer Haß
pflegt sich ganz anders zu äußern, und mehr und mehr kommt man zu der
Ueberzeugung, daß es pure Gewinnsucht gewesen ist, die den ehrenwerthen
Verfasser, den nur ausgefärbten Franzosen, den französischen Schweizer zu
einem Werke begeisterte, das dieselbe vaterlandslose, käufliche Seele kundgibt,
die jenen helvetischen Reisläufern das schmachvolle Sprüchwort eintrug: xowt
ä'argent xomt ac Suisse, das für den guten Kern des schweizer Volkes nie
Geltung gehabt hat.

Herr Tissot hat einfach speculirt und zwar richtig speculirt. Er kannte
sein Publikum und dessen Anforderungen. Er hat das nicht zu bezweifelnde
Verdienst, daß er den geheimsten Wünschen desselben zuvorgekommen ist.

Wer weiß, und Herr Tissot wußte dies nur zu gut, wie schwer es
den Franzosen wird, sich mit dem Gedanken abzufinden, nicht mehr das
Prestige in Europa zu besitzen, nicht mehr die erste, die gebildetste, die an"
meisten beneidete, bewunderte und gefürchtete Nation der Welt zu sein, der
konnte sich leicht den Erfolg voraus berechnen, den ein Werk haben mußte,
welches den Franzosen überzeugend klar machte, daß das Volk, welches
um alles dieses gebracht hatte, im Grunde eine ganz verkommene rohe Rafft
sei, die nur durch die Energie einiger wenigen Männer zu einer außergewöhn'
lichen Kraftanstrengung, der dann das edle, hochgebildete Frankreich zun>
Opfer fallen mußte, gebracht worden ist, daß das deutsche Reich eine natur
widrige Schöpfung sei und sehr bald aus den Fugen ginge, und daß "lst
der Tag nicht mehr fern sei, wo Frankreich wieder die Führerschaft in Europa
antreten werde, ja daß es dieselbe trotz seiner Unglücksfälle in moralisch^
und intellectueller Beziehung eigentlich gar nicht verloren habe.

Herr Tissot ist nun vor einer solchen wenig beneidenswerten Ausgab
nicht zurückgeschreckt. Er hat den Franzosen wirklich alles das mit ernst^
Miene vordemonstrirt, und diese Beweisführung ist denn auch der eigentlich^
Kern seines Buches, den er freilich mit einer Masse unnöthigen Beiwerks


in ungebildeten und halbgebildeter Kreisen Sensation gemacht hat, dafür
spricht auch wohl die Notiz, die vor Kurzem im Figaro zu lesen war, daß
Louis Blanc mit diesem nämlichen Buch unterm Arm öffentlich gesehen
worden sei.

Diesem äußern Umstände also allein hat es der Herr Tissot zu verdanken,
daß wir Deutschen uns mit seinem Werk beschäftigen wollen. Ehe wir uns
daran machen, dasselbe in seinen einzelnen Theilen vorzuführen, müssen wir
uns über die Motive aussprechen, die den Verfasser bei der Abfassung desselben
geleitet haben. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß glühender Haß
dem Herrn Tissot die Feder in die Hand gedrückt habe, bald aber beginnt
man, angesichts der sich Hausenten Abgeschmacktheiten und plumpen Erfin¬
dungen, an der Echtheit desselben zu zweifeln; denn überzeugungstreuer Haß
pflegt sich ganz anders zu äußern, und mehr und mehr kommt man zu der
Ueberzeugung, daß es pure Gewinnsucht gewesen ist, die den ehrenwerthen
Verfasser, den nur ausgefärbten Franzosen, den französischen Schweizer zu
einem Werke begeisterte, das dieselbe vaterlandslose, käufliche Seele kundgibt,
die jenen helvetischen Reisläufern das schmachvolle Sprüchwort eintrug: xowt
ä'argent xomt ac Suisse, das für den guten Kern des schweizer Volkes nie
Geltung gehabt hat.

Herr Tissot hat einfach speculirt und zwar richtig speculirt. Er kannte
sein Publikum und dessen Anforderungen. Er hat das nicht zu bezweifelnde
Verdienst, daß er den geheimsten Wünschen desselben zuvorgekommen ist.

Wer weiß, und Herr Tissot wußte dies nur zu gut, wie schwer es
den Franzosen wird, sich mit dem Gedanken abzufinden, nicht mehr das
Prestige in Europa zu besitzen, nicht mehr die erste, die gebildetste, die an«
meisten beneidete, bewunderte und gefürchtete Nation der Welt zu sein, der
konnte sich leicht den Erfolg voraus berechnen, den ein Werk haben mußte,
welches den Franzosen überzeugend klar machte, daß das Volk, welches
um alles dieses gebracht hatte, im Grunde eine ganz verkommene rohe Rafft
sei, die nur durch die Energie einiger wenigen Männer zu einer außergewöhn'
lichen Kraftanstrengung, der dann das edle, hochgebildete Frankreich zun>
Opfer fallen mußte, gebracht worden ist, daß das deutsche Reich eine natur
widrige Schöpfung sei und sehr bald aus den Fugen ginge, und daß «lst
der Tag nicht mehr fern sei, wo Frankreich wieder die Führerschaft in Europa
antreten werde, ja daß es dieselbe trotz seiner Unglücksfälle in moralisch^
und intellectueller Beziehung eigentlich gar nicht verloren habe.

Herr Tissot ist nun vor einer solchen wenig beneidenswerten Ausgab
nicht zurückgeschreckt. Er hat den Franzosen wirklich alles das mit ernst^
Miene vordemonstrirt, und diese Beweisführung ist denn auch der eigentlich^
Kern seines Buches, den er freilich mit einer Masse unnöthigen Beiwerks


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[0406] in ungebildeten und halbgebildeter Kreisen Sensation gemacht hat, dafür spricht auch wohl die Notiz, die vor Kurzem im Figaro zu lesen war, daß Louis Blanc mit diesem nämlichen Buch unterm Arm öffentlich gesehen worden sei. Diesem äußern Umstände also allein hat es der Herr Tissot zu verdanken, daß wir Deutschen uns mit seinem Werk beschäftigen wollen. Ehe wir uns daran machen, dasselbe in seinen einzelnen Theilen vorzuführen, müssen wir uns über die Motive aussprechen, die den Verfasser bei der Abfassung desselben geleitet haben. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß glühender Haß dem Herrn Tissot die Feder in die Hand gedrückt habe, bald aber beginnt man, angesichts der sich Hausenten Abgeschmacktheiten und plumpen Erfin¬ dungen, an der Echtheit desselben zu zweifeln; denn überzeugungstreuer Haß pflegt sich ganz anders zu äußern, und mehr und mehr kommt man zu der Ueberzeugung, daß es pure Gewinnsucht gewesen ist, die den ehrenwerthen Verfasser, den nur ausgefärbten Franzosen, den französischen Schweizer zu einem Werke begeisterte, das dieselbe vaterlandslose, käufliche Seele kundgibt, die jenen helvetischen Reisläufern das schmachvolle Sprüchwort eintrug: xowt ä'argent xomt ac Suisse, das für den guten Kern des schweizer Volkes nie Geltung gehabt hat. Herr Tissot hat einfach speculirt und zwar richtig speculirt. Er kannte sein Publikum und dessen Anforderungen. Er hat das nicht zu bezweifelnde Verdienst, daß er den geheimsten Wünschen desselben zuvorgekommen ist. Wer weiß, und Herr Tissot wußte dies nur zu gut, wie schwer es den Franzosen wird, sich mit dem Gedanken abzufinden, nicht mehr das Prestige in Europa zu besitzen, nicht mehr die erste, die gebildetste, die an« meisten beneidete, bewunderte und gefürchtete Nation der Welt zu sein, der konnte sich leicht den Erfolg voraus berechnen, den ein Werk haben mußte, welches den Franzosen überzeugend klar machte, daß das Volk, welches um alles dieses gebracht hatte, im Grunde eine ganz verkommene rohe Rafft sei, die nur durch die Energie einiger wenigen Männer zu einer außergewöhn' lichen Kraftanstrengung, der dann das edle, hochgebildete Frankreich zun> Opfer fallen mußte, gebracht worden ist, daß das deutsche Reich eine natur widrige Schöpfung sei und sehr bald aus den Fugen ginge, und daß «lst der Tag nicht mehr fern sei, wo Frankreich wieder die Führerschaft in Europa antreten werde, ja daß es dieselbe trotz seiner Unglücksfälle in moralisch^ und intellectueller Beziehung eigentlich gar nicht verloren habe. Herr Tissot ist nun vor einer solchen wenig beneidenswerten Ausgab nicht zurückgeschreckt. Er hat den Franzosen wirklich alles das mit ernst^ Miene vordemonstrirt, und diese Beweisführung ist denn auch der eigentlich^ Kern seines Buches, den er freilich mit einer Masse unnöthigen Beiwerks

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/406>, abgerufen am 27.07.2024.