Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.welcher er gerade die drei genannten Sophokleischen Tragödien auffaßt und Türschmann legte seinem Bortrage mit Recht die Donner'sche Ueber¬ Die drei Tragödien hält Türschmann für eine durchaus organische Einheit, welcher er gerade die drei genannten Sophokleischen Tragödien auffaßt und Türschmann legte seinem Bortrage mit Recht die Donner'sche Ueber¬ Die drei Tragödien hält Türschmann für eine durchaus organische Einheit, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135611"/> <p xml:id="ID_90" prev="#ID_89"> welcher er gerade die drei genannten Sophokleischen Tragödien auffaßt und<lb/> darstellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_91"> Türschmann legte seinem Bortrage mit Recht die Donner'sche Ueber¬<lb/> setzung zu Grunde, denn sie ist von allen wohl die gewandteste und flüssigste<lb/> die in den Chorsteller oft zu einem ergreifenden Nachdichter des Originals<lb/> wird, ohne sich von demselben zu weit zu entfernen. Freilich der Dialog,<lb/> besonders die Stichomythteen verrathen oft nur allzusehr, daß die Worte<lb/> nicht unmittelbar der dichterischen Empfindung und Phantasie entströmen,<lb/> sondern durch verständiges Reflectiren des Uebersetzers entstanden sind. Türschmann<lb/> hielt sich aber auch nicht sclavisch an den Donner'schen Text, sondern folgte<lb/> zuweilen andern Uebertragungen, zuweilen nahm er mit der zu Grunde ge¬<lb/> legten Uebersetzung selbständige Aenderungen vor. Daß er Stellen, die kritisch<lb/> verdächtig sind und außerdem dem modernen Bewußtsein schroff widersprechen,<lb/> wie die bekannte in der letzten Rede der Antigone, in welcher sie mit eisiger<lb/> Verständigkeit, mit gemüthloser Sophistik ihre Handlungsweise rechtfertigt,<lb/> — daß er solche und ähnliche Stellen in seine Recitation nicht aufgenommen<lb/> hat, wird jeder sehr angemessen finden; ebenso ist es durchaus zu billigen,<lb/> daß er einzelne kommatische Partieen gestürzt hat. Die bedeutendste und<lb/> interessanteste Aenderung ist die, welche er in der Schlußscene des kolonetschen<lb/> Oedipus mit den abgebrochenen, ganz urnecitirbaren Reden der Antigone und<lb/> Jsmene vorgenommen hat. Hier stellt er, natürlich überall aus den Worten<lb/> des Sophokles selber, zusammenhängendere Reden der beiden Schwestern her,<lb/> — mit vorzüglichem Geschick, mit verständnißvollster Auffassung der Situation, so<lb/> daß gerade dieser bei der Lectüre so wenig befriedigende Schluß der Tragödie<lb/> von unbeschreiblicher Wirkung ist. In der Vertheilung der Worte auf die<lb/> beiden Schwestern ist er im wesentlichen dem Vorgange von Adolf Schöll gefolgt.</p><lb/> <p xml:id="ID_92" next="#ID_93"> Die drei Tragödien hält Türschmann für eine durchaus organische Einheit,<lb/> zwar nicht für eine Trilogie in der Art der Aeschyleischen Orestie, aber doch<lb/> für eine Gesammtcomposition, deren dritter Theil immerhin zuerst entstanden<lb/> sein mag, die aber durch die Idee des Ganzen wie durch die einheitliche<lb/> widerspruchslose Gestaltung der Charaktere fest geschlossen ist. So ist ihm<lb/> der oft hervorgehobene Widerspruch in Kreon in den drei Dramen vielmehr<lb/> eine vom Dichter mit klaren Zügen zur Anschauung gebrachte Entwickelung<lb/> dieses Charakters, der sich in verschiedenen Situationen eben verschieden ge¬<lb/> stalten muß, ob er ohne eigentliche Regierungssorgen dem Throne nahe steht,<lb/> ob er eine schwierige Mission für seinen Staat rücksichtslos auszuführen hat,<lb/> ob er endlich an der Spitze desselben stehend und in vollem Bewußtsein seiner<lb/> Macht und Verantwortlichkeit auf ungeahnte Widersetzlichkeit stößt. Um den<lb/> Charakter des Oedipus einheitlich darzustellen, kann Türschmann natürlich<lb/> ihn im ersten Drama nicht als eine ideale Persönlichkeit auffassen, deren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
welcher er gerade die drei genannten Sophokleischen Tragödien auffaßt und
darstellt.
Türschmann legte seinem Bortrage mit Recht die Donner'sche Ueber¬
setzung zu Grunde, denn sie ist von allen wohl die gewandteste und flüssigste
die in den Chorsteller oft zu einem ergreifenden Nachdichter des Originals
wird, ohne sich von demselben zu weit zu entfernen. Freilich der Dialog,
besonders die Stichomythteen verrathen oft nur allzusehr, daß die Worte
nicht unmittelbar der dichterischen Empfindung und Phantasie entströmen,
sondern durch verständiges Reflectiren des Uebersetzers entstanden sind. Türschmann
hielt sich aber auch nicht sclavisch an den Donner'schen Text, sondern folgte
zuweilen andern Uebertragungen, zuweilen nahm er mit der zu Grunde ge¬
legten Uebersetzung selbständige Aenderungen vor. Daß er Stellen, die kritisch
verdächtig sind und außerdem dem modernen Bewußtsein schroff widersprechen,
wie die bekannte in der letzten Rede der Antigone, in welcher sie mit eisiger
Verständigkeit, mit gemüthloser Sophistik ihre Handlungsweise rechtfertigt,
— daß er solche und ähnliche Stellen in seine Recitation nicht aufgenommen
hat, wird jeder sehr angemessen finden; ebenso ist es durchaus zu billigen,
daß er einzelne kommatische Partieen gestürzt hat. Die bedeutendste und
interessanteste Aenderung ist die, welche er in der Schlußscene des kolonetschen
Oedipus mit den abgebrochenen, ganz urnecitirbaren Reden der Antigone und
Jsmene vorgenommen hat. Hier stellt er, natürlich überall aus den Worten
des Sophokles selber, zusammenhängendere Reden der beiden Schwestern her,
— mit vorzüglichem Geschick, mit verständnißvollster Auffassung der Situation, so
daß gerade dieser bei der Lectüre so wenig befriedigende Schluß der Tragödie
von unbeschreiblicher Wirkung ist. In der Vertheilung der Worte auf die
beiden Schwestern ist er im wesentlichen dem Vorgange von Adolf Schöll gefolgt.
Die drei Tragödien hält Türschmann für eine durchaus organische Einheit,
zwar nicht für eine Trilogie in der Art der Aeschyleischen Orestie, aber doch
für eine Gesammtcomposition, deren dritter Theil immerhin zuerst entstanden
sein mag, die aber durch die Idee des Ganzen wie durch die einheitliche
widerspruchslose Gestaltung der Charaktere fest geschlossen ist. So ist ihm
der oft hervorgehobene Widerspruch in Kreon in den drei Dramen vielmehr
eine vom Dichter mit klaren Zügen zur Anschauung gebrachte Entwickelung
dieses Charakters, der sich in verschiedenen Situationen eben verschieden ge¬
stalten muß, ob er ohne eigentliche Regierungssorgen dem Throne nahe steht,
ob er eine schwierige Mission für seinen Staat rücksichtslos auszuführen hat,
ob er endlich an der Spitze desselben stehend und in vollem Bewußtsein seiner
Macht und Verantwortlichkeit auf ungeahnte Widersetzlichkeit stößt. Um den
Charakter des Oedipus einheitlich darzustellen, kann Türschmann natürlich
ihn im ersten Drama nicht als eine ideale Persönlichkeit auffassen, deren
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