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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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evangelischen Kirche "mit Formen des Kirchenregiments zu helfen." Sondern
wir thun es in dem Vertrauen, daß diese vom territorialistischen Staat bis¬
her in ihrer Lebensentsaltung vollkommen gehemmte deutsch-evangelische Kirche,
selbst in dem überaus traurigen Zustand, in dem sie aus dreihundertjährigen
Ketten und Banden hervorgeht, ungeahnte Lebenskräfte in sich hege, die sie
entfalten und mit denen sie den geistig-sittlichen Nothständen unseres natio¬
nalen Lebens heilend entgegenkommen werde, sobald sie in der Luft der
Freiheit erstarkt und genesen. Die Formen und Bahnen heute schon
bezeichnen zu wollen, welche jene entbundenen Lebenskräfte dann suchen wer¬
den, würde überaus thöricht sein, und darum enthalten wir uns auch jeder
materiellen Kritik der Reformideen des Verfassers, welche nur eine ganz un¬
fruchtbare Arbeit sein würde. Der Staat, anstatt sich in Experimente mit
der evangelischen Kirche einzulassen, die ganz über seine Fähigkeit und Be¬
rufsgrenze gehen, habe nur Glauben an die Unschuld und Gotteskraft des
evangelischen Geistes und handle mit unsrer Kirche nach diesem Glauben; er
wird denselben nicht zu bereuen haben.

Nur auf Ein sehr praktisches Problem müssen wir schließlich noch eben
Mit dem Verfasser kommen, auf das Verhältniß zur römischen Kirche. Er
kommt am Schluß seines Buches auf den Ausgangspunkt desselben zurück,
und erwartet, indem er die Frage nach dem Ende des "Culturkampfes" auf¬
wirft, dies Ende definitiv erst von dem Untergang der römischen Kirche in
Deutschland. Damit wäre freilich das größte und greifbarste Hinderniß jenes
nationalen Zusammenwirkens von Staat und Kirche in Deutschland, das
wir mit ihm wünschen, aus dem Wege geräumt. Aber es gilt, jenem schwer¬
sten Problem unsrer nationalen Entwicklung gegenüber die Besonnenheit nicht
zu verlieren. Wir sind mit dem Verfasser einverstanden darüber, daß zwischen
der vaticanischen Kirche und dem deutschen Staate ein wirklicher und dauer¬
hafter Friede nicht möglich ist, weil beide ihrer Natur nach einander prin¬
cipiell negiren; daß vielmehr immer nur Waffenstillstande eintreten werden
als Ruhepausen vor erneuten Kämpfen auf Leben und Tod. Wir halten es
auch mit ihm für möglich, daß einmal in einer schweren Verwickelung euro¬
päischer Politik "der römische Klerus in Deutschland und diejenigen Elemente
der Bevölkerung, die ihm folgen, die Probe der Vaterlandstreue nicht be¬
stehen," und wagen nur zu hoffen, daß dann, wenn deutsche katholische Be¬
völkerungen in einer großen vaterländischen Entscheidungsstunde in die Wahl
zwischen deutscher Treue und jesuitischer Perfidie gestellt sein sollten, sie über¬
wiegend sich entscheiden werden wie das bairische Volk im Jahre 1870, und daß
dann Vielen darunter über ihre Kirche die Schuppen von den Augen fallen
werden. Der römischen Kirche jede Wirksamkeit auf deutschem Boden zu ver¬
wehren, wie der Verfasser eventuell für unvermeidlich hält, würden wir auch


evangelischen Kirche „mit Formen des Kirchenregiments zu helfen." Sondern
wir thun es in dem Vertrauen, daß diese vom territorialistischen Staat bis¬
her in ihrer Lebensentsaltung vollkommen gehemmte deutsch-evangelische Kirche,
selbst in dem überaus traurigen Zustand, in dem sie aus dreihundertjährigen
Ketten und Banden hervorgeht, ungeahnte Lebenskräfte in sich hege, die sie
entfalten und mit denen sie den geistig-sittlichen Nothständen unseres natio¬
nalen Lebens heilend entgegenkommen werde, sobald sie in der Luft der
Freiheit erstarkt und genesen. Die Formen und Bahnen heute schon
bezeichnen zu wollen, welche jene entbundenen Lebenskräfte dann suchen wer¬
den, würde überaus thöricht sein, und darum enthalten wir uns auch jeder
materiellen Kritik der Reformideen des Verfassers, welche nur eine ganz un¬
fruchtbare Arbeit sein würde. Der Staat, anstatt sich in Experimente mit
der evangelischen Kirche einzulassen, die ganz über seine Fähigkeit und Be¬
rufsgrenze gehen, habe nur Glauben an die Unschuld und Gotteskraft des
evangelischen Geistes und handle mit unsrer Kirche nach diesem Glauben; er
wird denselben nicht zu bereuen haben.

Nur auf Ein sehr praktisches Problem müssen wir schließlich noch eben
Mit dem Verfasser kommen, auf das Verhältniß zur römischen Kirche. Er
kommt am Schluß seines Buches auf den Ausgangspunkt desselben zurück,
und erwartet, indem er die Frage nach dem Ende des „Culturkampfes" auf¬
wirft, dies Ende definitiv erst von dem Untergang der römischen Kirche in
Deutschland. Damit wäre freilich das größte und greifbarste Hinderniß jenes
nationalen Zusammenwirkens von Staat und Kirche in Deutschland, das
wir mit ihm wünschen, aus dem Wege geräumt. Aber es gilt, jenem schwer¬
sten Problem unsrer nationalen Entwicklung gegenüber die Besonnenheit nicht
zu verlieren. Wir sind mit dem Verfasser einverstanden darüber, daß zwischen
der vaticanischen Kirche und dem deutschen Staate ein wirklicher und dauer¬
hafter Friede nicht möglich ist, weil beide ihrer Natur nach einander prin¬
cipiell negiren; daß vielmehr immer nur Waffenstillstande eintreten werden
als Ruhepausen vor erneuten Kämpfen auf Leben und Tod. Wir halten es
auch mit ihm für möglich, daß einmal in einer schweren Verwickelung euro¬
päischer Politik „der römische Klerus in Deutschland und diejenigen Elemente
der Bevölkerung, die ihm folgen, die Probe der Vaterlandstreue nicht be¬
stehen," und wagen nur zu hoffen, daß dann, wenn deutsche katholische Be¬
völkerungen in einer großen vaterländischen Entscheidungsstunde in die Wahl
zwischen deutscher Treue und jesuitischer Perfidie gestellt sein sollten, sie über¬
wiegend sich entscheiden werden wie das bairische Volk im Jahre 1870, und daß
dann Vielen darunter über ihre Kirche die Schuppen von den Augen fallen
werden. Der römischen Kirche jede Wirksamkeit auf deutschem Boden zu ver¬
wehren, wie der Verfasser eventuell für unvermeidlich hält, würden wir auch


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[0265] evangelischen Kirche „mit Formen des Kirchenregiments zu helfen." Sondern wir thun es in dem Vertrauen, daß diese vom territorialistischen Staat bis¬ her in ihrer Lebensentsaltung vollkommen gehemmte deutsch-evangelische Kirche, selbst in dem überaus traurigen Zustand, in dem sie aus dreihundertjährigen Ketten und Banden hervorgeht, ungeahnte Lebenskräfte in sich hege, die sie entfalten und mit denen sie den geistig-sittlichen Nothständen unseres natio¬ nalen Lebens heilend entgegenkommen werde, sobald sie in der Luft der Freiheit erstarkt und genesen. Die Formen und Bahnen heute schon bezeichnen zu wollen, welche jene entbundenen Lebenskräfte dann suchen wer¬ den, würde überaus thöricht sein, und darum enthalten wir uns auch jeder materiellen Kritik der Reformideen des Verfassers, welche nur eine ganz un¬ fruchtbare Arbeit sein würde. Der Staat, anstatt sich in Experimente mit der evangelischen Kirche einzulassen, die ganz über seine Fähigkeit und Be¬ rufsgrenze gehen, habe nur Glauben an die Unschuld und Gotteskraft des evangelischen Geistes und handle mit unsrer Kirche nach diesem Glauben; er wird denselben nicht zu bereuen haben. Nur auf Ein sehr praktisches Problem müssen wir schließlich noch eben Mit dem Verfasser kommen, auf das Verhältniß zur römischen Kirche. Er kommt am Schluß seines Buches auf den Ausgangspunkt desselben zurück, und erwartet, indem er die Frage nach dem Ende des „Culturkampfes" auf¬ wirft, dies Ende definitiv erst von dem Untergang der römischen Kirche in Deutschland. Damit wäre freilich das größte und greifbarste Hinderniß jenes nationalen Zusammenwirkens von Staat und Kirche in Deutschland, das wir mit ihm wünschen, aus dem Wege geräumt. Aber es gilt, jenem schwer¬ sten Problem unsrer nationalen Entwicklung gegenüber die Besonnenheit nicht zu verlieren. Wir sind mit dem Verfasser einverstanden darüber, daß zwischen der vaticanischen Kirche und dem deutschen Staate ein wirklicher und dauer¬ hafter Friede nicht möglich ist, weil beide ihrer Natur nach einander prin¬ cipiell negiren; daß vielmehr immer nur Waffenstillstande eintreten werden als Ruhepausen vor erneuten Kämpfen auf Leben und Tod. Wir halten es auch mit ihm für möglich, daß einmal in einer schweren Verwickelung euro¬ päischer Politik „der römische Klerus in Deutschland und diejenigen Elemente der Bevölkerung, die ihm folgen, die Probe der Vaterlandstreue nicht be¬ stehen," und wagen nur zu hoffen, daß dann, wenn deutsche katholische Be¬ völkerungen in einer großen vaterländischen Entscheidungsstunde in die Wahl zwischen deutscher Treue und jesuitischer Perfidie gestellt sein sollten, sie über¬ wiegend sich entscheiden werden wie das bairische Volk im Jahre 1870, und daß dann Vielen darunter über ihre Kirche die Schuppen von den Augen fallen werden. Der römischen Kirche jede Wirksamkeit auf deutschem Boden zu ver¬ wehren, wie der Verfasser eventuell für unvermeidlich hält, würden wir auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/265>, abgerufen am 27.07.2024.