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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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zu Zerrbildern der Religion geführt hat? Der Verfasser selbst macht in
seinem Buche hin und wieder Bemerkungen, die seine Einheit von Staat und
Kirche principiell wieder aufheben: wie wenn er in einer seiner treffendsten Aus¬
führungen (S. 162) sagt, die Religion fange gerade da an, wo die Autorität
(dies wesentliche Attribut der Staatsidee) aufhöre; wenn er verlangt, daß in
der Ehescheidungsfrage die Kirche eine höhere Sittlichkeit vertreten solle als
der Staat, oder wenn er die Staatskirche nothgedrungen auf die beschränkt,
welche ihr angehören wollen, und den Anderen Glaubens- und Cultus¬
freiheit gewährt, ohne ihnen von ihren staatsbürgerlichen Rechten etwas
abzuziehen.

Er wird uns vielleicht dennoch den Gedanken der "Concentration der
sittlichen Functionen" entgegenhalten, den Gedanken, daß es für das sittliche
Gemeinleben der Menschheit doch Ein Centrum geben müsse, die Staatsidee,
das alle sittlichen Functionen einheitlich um sich sammle. Aber es ist mit
diesem wie mit allem philosophischen Monismus: er scheitert an der von
Gott geordneten oder zugelassenen Wirklichkeit. Das sittliche Gemeinleben der
Menschen auf Erden ist nun einmal kein um Ein Centrum sich ziehender
Kreis, sondern (wiefern es über die Familie hinausgeht) eine Ellipse mit
zweien. Der Staat ist nicht die Verwirklichung der sittlichen Idee, sondern
nur der eine Brennpunkt dieser Verwirklichung, nur der eine Ansatz zu ihr,
welcher von unten auf, von der Naturbasis der Nationalität aus, durch das
pädagogisch - sittliche Mittel des Gesetzes gemacht wird. Seine Grundlage ist
rein-natürlich, Land und Leute, ein Stück Erde und ein darauf wohnender
individualisirter Bruchtheil der Menschheit, ein Volk: dieses gestaltet sich ver¬
möge des der menschlichen Natur innewohnenden Dranges sittlicher Ent¬
wicklung zu einem rechtlich-sittlichen Gemeinwesen, indem es eine Rechts¬
ordnung in sich aufrichtet und durch dieselbe seine natürlich-sittlichen Güter
und seine humane Entwicklung nach innen und nach außen zu sichern sucht.
Nun kann dies Gemeinwesen sich seine Bahnen enger oder weiter abstecken,
die Verfolgung der höher und reicher oder roher und armseliger gefaßten Auf¬
gaben, die dem Volksgeiste vorschweben, mehr der Freiheit des Einzelnen über¬
lassen oder mehr als Gesammtzwecke behandeln: immer bleibt es ein Reich
von dieser Welt mit rein irdischen Zwecken, und immer bleiben seine wesentlichen
Mittel Physisch und rechtlich, Gesetz und Gewalt. Daß dieses Reich in alle
Ewigkeit nicht zum Reiche der höheren, idealen Sittlichkeit werden kann, wie
viel ideale Strebungen es auch in sich befasse und nach Kräften entfalte, liegt
auf der Hand. Darum hat Gott dem Gemeinleben der Menschheit noch einen
anderen Brennpunkt gesetzt, und in der Kirche dem Reiche dieser Welt ein
anderes gegenübergestellt, das aus einer höheren Welt in die irdische sich
hineinbaut, ein Reich der Gnade und des Glaubens, der Freiheit und der


zu Zerrbildern der Religion geführt hat? Der Verfasser selbst macht in
seinem Buche hin und wieder Bemerkungen, die seine Einheit von Staat und
Kirche principiell wieder aufheben: wie wenn er in einer seiner treffendsten Aus¬
führungen (S. 162) sagt, die Religion fange gerade da an, wo die Autorität
(dies wesentliche Attribut der Staatsidee) aufhöre; wenn er verlangt, daß in
der Ehescheidungsfrage die Kirche eine höhere Sittlichkeit vertreten solle als
der Staat, oder wenn er die Staatskirche nothgedrungen auf die beschränkt,
welche ihr angehören wollen, und den Anderen Glaubens- und Cultus¬
freiheit gewährt, ohne ihnen von ihren staatsbürgerlichen Rechten etwas
abzuziehen.

Er wird uns vielleicht dennoch den Gedanken der „Concentration der
sittlichen Functionen" entgegenhalten, den Gedanken, daß es für das sittliche
Gemeinleben der Menschheit doch Ein Centrum geben müsse, die Staatsidee,
das alle sittlichen Functionen einheitlich um sich sammle. Aber es ist mit
diesem wie mit allem philosophischen Monismus: er scheitert an der von
Gott geordneten oder zugelassenen Wirklichkeit. Das sittliche Gemeinleben der
Menschen auf Erden ist nun einmal kein um Ein Centrum sich ziehender
Kreis, sondern (wiefern es über die Familie hinausgeht) eine Ellipse mit
zweien. Der Staat ist nicht die Verwirklichung der sittlichen Idee, sondern
nur der eine Brennpunkt dieser Verwirklichung, nur der eine Ansatz zu ihr,
welcher von unten auf, von der Naturbasis der Nationalität aus, durch das
pädagogisch - sittliche Mittel des Gesetzes gemacht wird. Seine Grundlage ist
rein-natürlich, Land und Leute, ein Stück Erde und ein darauf wohnender
individualisirter Bruchtheil der Menschheit, ein Volk: dieses gestaltet sich ver¬
möge des der menschlichen Natur innewohnenden Dranges sittlicher Ent¬
wicklung zu einem rechtlich-sittlichen Gemeinwesen, indem es eine Rechts¬
ordnung in sich aufrichtet und durch dieselbe seine natürlich-sittlichen Güter
und seine humane Entwicklung nach innen und nach außen zu sichern sucht.
Nun kann dies Gemeinwesen sich seine Bahnen enger oder weiter abstecken,
die Verfolgung der höher und reicher oder roher und armseliger gefaßten Auf¬
gaben, die dem Volksgeiste vorschweben, mehr der Freiheit des Einzelnen über¬
lassen oder mehr als Gesammtzwecke behandeln: immer bleibt es ein Reich
von dieser Welt mit rein irdischen Zwecken, und immer bleiben seine wesentlichen
Mittel Physisch und rechtlich, Gesetz und Gewalt. Daß dieses Reich in alle
Ewigkeit nicht zum Reiche der höheren, idealen Sittlichkeit werden kann, wie
viel ideale Strebungen es auch in sich befasse und nach Kräften entfalte, liegt
auf der Hand. Darum hat Gott dem Gemeinleben der Menschheit noch einen
anderen Brennpunkt gesetzt, und in der Kirche dem Reiche dieser Welt ein
anderes gegenübergestellt, das aus einer höheren Welt in die irdische sich
hineinbaut, ein Reich der Gnade und des Glaubens, der Freiheit und der


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[0262] zu Zerrbildern der Religion geführt hat? Der Verfasser selbst macht in seinem Buche hin und wieder Bemerkungen, die seine Einheit von Staat und Kirche principiell wieder aufheben: wie wenn er in einer seiner treffendsten Aus¬ führungen (S. 162) sagt, die Religion fange gerade da an, wo die Autorität (dies wesentliche Attribut der Staatsidee) aufhöre; wenn er verlangt, daß in der Ehescheidungsfrage die Kirche eine höhere Sittlichkeit vertreten solle als der Staat, oder wenn er die Staatskirche nothgedrungen auf die beschränkt, welche ihr angehören wollen, und den Anderen Glaubens- und Cultus¬ freiheit gewährt, ohne ihnen von ihren staatsbürgerlichen Rechten etwas abzuziehen. Er wird uns vielleicht dennoch den Gedanken der „Concentration der sittlichen Functionen" entgegenhalten, den Gedanken, daß es für das sittliche Gemeinleben der Menschheit doch Ein Centrum geben müsse, die Staatsidee, das alle sittlichen Functionen einheitlich um sich sammle. Aber es ist mit diesem wie mit allem philosophischen Monismus: er scheitert an der von Gott geordneten oder zugelassenen Wirklichkeit. Das sittliche Gemeinleben der Menschen auf Erden ist nun einmal kein um Ein Centrum sich ziehender Kreis, sondern (wiefern es über die Familie hinausgeht) eine Ellipse mit zweien. Der Staat ist nicht die Verwirklichung der sittlichen Idee, sondern nur der eine Brennpunkt dieser Verwirklichung, nur der eine Ansatz zu ihr, welcher von unten auf, von der Naturbasis der Nationalität aus, durch das pädagogisch - sittliche Mittel des Gesetzes gemacht wird. Seine Grundlage ist rein-natürlich, Land und Leute, ein Stück Erde und ein darauf wohnender individualisirter Bruchtheil der Menschheit, ein Volk: dieses gestaltet sich ver¬ möge des der menschlichen Natur innewohnenden Dranges sittlicher Ent¬ wicklung zu einem rechtlich-sittlichen Gemeinwesen, indem es eine Rechts¬ ordnung in sich aufrichtet und durch dieselbe seine natürlich-sittlichen Güter und seine humane Entwicklung nach innen und nach außen zu sichern sucht. Nun kann dies Gemeinwesen sich seine Bahnen enger oder weiter abstecken, die Verfolgung der höher und reicher oder roher und armseliger gefaßten Auf¬ gaben, die dem Volksgeiste vorschweben, mehr der Freiheit des Einzelnen über¬ lassen oder mehr als Gesammtzwecke behandeln: immer bleibt es ein Reich von dieser Welt mit rein irdischen Zwecken, und immer bleiben seine wesentlichen Mittel Physisch und rechtlich, Gesetz und Gewalt. Daß dieses Reich in alle Ewigkeit nicht zum Reiche der höheren, idealen Sittlichkeit werden kann, wie viel ideale Strebungen es auch in sich befasse und nach Kräften entfalte, liegt auf der Hand. Darum hat Gott dem Gemeinleben der Menschheit noch einen anderen Brennpunkt gesetzt, und in der Kirche dem Reiche dieser Welt ein anderes gegenübergestellt, das aus einer höheren Welt in die irdische sich hineinbaut, ein Reich der Gnade und des Glaubens, der Freiheit und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/262>, abgerufen am 28.07.2024.