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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Erst der Eisenbahnbesitz wird auch dem Reich die technische Fähigkeit und
Autorität zur Beaufsichtigung des gesammten Eisenbahnwesens im öffentlichen
Interesse verschaffen.

Die Reden des zweiten Verhandlungstages über diesen Gegenstand boten
einerseits eine umfangreiche Ausführung des Handelsministers Ueberhand,
welche viele geschickte und belehrende Einzelheiten enthaltend in der Haupt¬
sache natürlich mit dem Gedanken des Reichskanzlers übereinkommen mußte.
Die Reden der beiden Gegner, des Einen im Namen der Fortschrittspartei,
des Andern im Namen des Centrums, waren von auffallender Schwäche, ob¬
wohl der letztere Redner Herr P. Reichensperger war. Mit großer Spannung
wurde die Rede des Finanzministers Camphausen angehört, welchen die Fama
zum stillen oder offenen Gegner der Vorlage hatte machen wollen, und nicht
bloß die Fama, selbst Herr E. Richter hatte, weil die Vorlage nur vom
Handelsminister unterzeichnet war, die Gegnerschaft des Finanzministers am
Tage vorher in seiner Rede angenommen. Herr Camphausen sprach für die
Vorlage im Sinne des Reichskanzlers und des Handelsministers und erklärte,
die volle Verantwortung dafür mit zu übernehmen.

Es ist aber eine alte Gewohnheit des jetzigen Ftnanzministers, bei jeder
Sache, die er befürwortet, das Gegentheil ebenso stark zu betonen und zu
rechtfertigen. In ähnlicher Weise sprach Herr Camphausen 1849 für die
Annahme der deutschen Kaiserkrone und 1860 für die Regulirung der Grund¬
steuer. In diesen Blättern wurde 1849 bemerkt: Herr Camphausen sagt:
Friede ist schlimm, Krieg ist schlimm, ich entscheide mich für keins von beiden.
-- Am 27. April 1876 konnte man immerhin bemerken, welche Seite Herr
Camphausen mehr betonte. Er verfehlte nicht, zu sagen: es gebe keine ab¬
solute Wahrheit in Eisenbahnsachen -- was auch in andern Sachen zutrifft
die Zeit der Privatbahnen werde wieder kommen. Aber er sagte doch:
jetzt thut uns das Staatsbahnsystem noth; und auf das Jetzt kommt es
überall an.

Das größte Wort in dieser ganzen Eisenbahnverhandlung hat der fort¬
schrittliche Abg. Berger ausgesprochen: der Reichskanzler hat augenblicklich
keine große Frage zur Hand, darum hat er mit Begierde das Staatsbahn¬
system ergriffen. -- Also war es Mangel an Beschäftigung. Herr Berger,
ach daß Sie nicht der Einzige Ihrer Gattung sind, daß Sie nicht Ihre
Gattung allein repräsentiren! Aber Sie werden als rexi-esenwtit wan auf
die Nachwelt übergehen, dafür haben Sie am 27. April gesorgt!

Die Sitzung vom 28. April mit der wiederholten dritten Lesung des
Gesetzes über die Einverleibung von Lauenburg dürfen wir übergehen. Selbst
der Reichskanzler konnte der Opposition des Herrn Virchow keine neue
Seite abgewinnen. Wie könnten wir es!


Grenzboten it. 1876. 30

Erst der Eisenbahnbesitz wird auch dem Reich die technische Fähigkeit und
Autorität zur Beaufsichtigung des gesammten Eisenbahnwesens im öffentlichen
Interesse verschaffen.

Die Reden des zweiten Verhandlungstages über diesen Gegenstand boten
einerseits eine umfangreiche Ausführung des Handelsministers Ueberhand,
welche viele geschickte und belehrende Einzelheiten enthaltend in der Haupt¬
sache natürlich mit dem Gedanken des Reichskanzlers übereinkommen mußte.
Die Reden der beiden Gegner, des Einen im Namen der Fortschrittspartei,
des Andern im Namen des Centrums, waren von auffallender Schwäche, ob¬
wohl der letztere Redner Herr P. Reichensperger war. Mit großer Spannung
wurde die Rede des Finanzministers Camphausen angehört, welchen die Fama
zum stillen oder offenen Gegner der Vorlage hatte machen wollen, und nicht
bloß die Fama, selbst Herr E. Richter hatte, weil die Vorlage nur vom
Handelsminister unterzeichnet war, die Gegnerschaft des Finanzministers am
Tage vorher in seiner Rede angenommen. Herr Camphausen sprach für die
Vorlage im Sinne des Reichskanzlers und des Handelsministers und erklärte,
die volle Verantwortung dafür mit zu übernehmen.

Es ist aber eine alte Gewohnheit des jetzigen Ftnanzministers, bei jeder
Sache, die er befürwortet, das Gegentheil ebenso stark zu betonen und zu
rechtfertigen. In ähnlicher Weise sprach Herr Camphausen 1849 für die
Annahme der deutschen Kaiserkrone und 1860 für die Regulirung der Grund¬
steuer. In diesen Blättern wurde 1849 bemerkt: Herr Camphausen sagt:
Friede ist schlimm, Krieg ist schlimm, ich entscheide mich für keins von beiden.
— Am 27. April 1876 konnte man immerhin bemerken, welche Seite Herr
Camphausen mehr betonte. Er verfehlte nicht, zu sagen: es gebe keine ab¬
solute Wahrheit in Eisenbahnsachen — was auch in andern Sachen zutrifft
die Zeit der Privatbahnen werde wieder kommen. Aber er sagte doch:
jetzt thut uns das Staatsbahnsystem noth; und auf das Jetzt kommt es
überall an.

Das größte Wort in dieser ganzen Eisenbahnverhandlung hat der fort¬
schrittliche Abg. Berger ausgesprochen: der Reichskanzler hat augenblicklich
keine große Frage zur Hand, darum hat er mit Begierde das Staatsbahn¬
system ergriffen. — Also war es Mangel an Beschäftigung. Herr Berger,
ach daß Sie nicht der Einzige Ihrer Gattung sind, daß Sie nicht Ihre
Gattung allein repräsentiren! Aber Sie werden als rexi-esenwtit wan auf
die Nachwelt übergehen, dafür haben Sie am 27. April gesorgt!

Die Sitzung vom 28. April mit der wiederholten dritten Lesung des
Gesetzes über die Einverleibung von Lauenburg dürfen wir übergehen. Selbst
der Reichskanzler konnte der Opposition des Herrn Virchow keine neue
Seite abgewinnen. Wie könnten wir es!


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[0237] Erst der Eisenbahnbesitz wird auch dem Reich die technische Fähigkeit und Autorität zur Beaufsichtigung des gesammten Eisenbahnwesens im öffentlichen Interesse verschaffen. Die Reden des zweiten Verhandlungstages über diesen Gegenstand boten einerseits eine umfangreiche Ausführung des Handelsministers Ueberhand, welche viele geschickte und belehrende Einzelheiten enthaltend in der Haupt¬ sache natürlich mit dem Gedanken des Reichskanzlers übereinkommen mußte. Die Reden der beiden Gegner, des Einen im Namen der Fortschrittspartei, des Andern im Namen des Centrums, waren von auffallender Schwäche, ob¬ wohl der letztere Redner Herr P. Reichensperger war. Mit großer Spannung wurde die Rede des Finanzministers Camphausen angehört, welchen die Fama zum stillen oder offenen Gegner der Vorlage hatte machen wollen, und nicht bloß die Fama, selbst Herr E. Richter hatte, weil die Vorlage nur vom Handelsminister unterzeichnet war, die Gegnerschaft des Finanzministers am Tage vorher in seiner Rede angenommen. Herr Camphausen sprach für die Vorlage im Sinne des Reichskanzlers und des Handelsministers und erklärte, die volle Verantwortung dafür mit zu übernehmen. Es ist aber eine alte Gewohnheit des jetzigen Ftnanzministers, bei jeder Sache, die er befürwortet, das Gegentheil ebenso stark zu betonen und zu rechtfertigen. In ähnlicher Weise sprach Herr Camphausen 1849 für die Annahme der deutschen Kaiserkrone und 1860 für die Regulirung der Grund¬ steuer. In diesen Blättern wurde 1849 bemerkt: Herr Camphausen sagt: Friede ist schlimm, Krieg ist schlimm, ich entscheide mich für keins von beiden. — Am 27. April 1876 konnte man immerhin bemerken, welche Seite Herr Camphausen mehr betonte. Er verfehlte nicht, zu sagen: es gebe keine ab¬ solute Wahrheit in Eisenbahnsachen — was auch in andern Sachen zutrifft die Zeit der Privatbahnen werde wieder kommen. Aber er sagte doch: jetzt thut uns das Staatsbahnsystem noth; und auf das Jetzt kommt es überall an. Das größte Wort in dieser ganzen Eisenbahnverhandlung hat der fort¬ schrittliche Abg. Berger ausgesprochen: der Reichskanzler hat augenblicklich keine große Frage zur Hand, darum hat er mit Begierde das Staatsbahn¬ system ergriffen. — Also war es Mangel an Beschäftigung. Herr Berger, ach daß Sie nicht der Einzige Ihrer Gattung sind, daß Sie nicht Ihre Gattung allein repräsentiren! Aber Sie werden als rexi-esenwtit wan auf die Nachwelt übergehen, dafür haben Sie am 27. April gesorgt! Die Sitzung vom 28. April mit der wiederholten dritten Lesung des Gesetzes über die Einverleibung von Lauenburg dürfen wir übergehen. Selbst der Reichskanzler konnte der Opposition des Herrn Virchow keine neue Seite abgewinnen. Wie könnten wir es! Grenzboten it. 1876. 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/237>, abgerufen am 27.11.2024.