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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Seite ihre mächtige Wirkung auf dem Felde der musikalischen Reproduktion,
im Hause, im Theater und im Concert, und zeigt endlich, welche Bedeutung
die Frauen der Musik gegenüber als genießendes Publicum, als Stimm¬
führerinnen und Parteigängerinnen haben, und wie sie dadurch sogar auf die musi¬
kalische Produktion Einfluß gewinnen. Im zweiten Aufsatz: "Klatschen und Zischen"
erörtert der Verfasser die Gründe, weshalb Beifallsbezeugungen für den ausführen-
den Künstler Werth haben, und giebt eine Reihe feiner Auseinandersetzungen über
das Wesen des Beifalls in seinen verschiedenen Spielarten nebst treffenden
Bemerkungen über die ungehörigen Formen desselben. Den dritten und
fünften Aufsatz bilden eingehende, liebevoll und reich ausgeführte Charakteri¬
stiken Carl Löwe's, des großen Balladencomponisten, und Joseph Joachim's
des "Königs der Geiger". Der sechste und letzte Aufsatz des Buches: "Zum
Gedächtniß Beethoven's" enthält zwei Nummern; die erste beschäftigt sich mit
der schönen und unglücklichen Julia Guicciardi, der Heldin von Beethoven's
Cis-moll-Sonate, weist an der Hand Thayer's, des neuesten Beethovenbiogra¬
phen, nach, in wie maßloser Weise die kleine Herzensgeschichte des Meisters
aufgebauscht worden ist, und scheidet zwischen dem, worin ihr historischer Kern
besteht und dem, was die Beethovenlegende hinzugedichtet hat; die zweite
Nummer ist eine schwungvolle Gedächtnißrede auf Beethoven, geschrieben oder
gesprochen bei Gelegenheit der Säcularfeier 1870. Bei weitem den wichtigsten
Abschnitt des ganzen Buches aber bilden die an vierter Stelle zusammenge¬
faßten drei Aufsätze, die sich mit Richard Wagner beschäftigen: "Tristan und
Isolde" -- "die Meistersinger" -- "das bestehende Opernwesen und das Ge-
sammtkunstwerk". Dem gräulich unreifen Gefasel gegenüber, welches in unsern
musikalischen Zeitschriften von fanatischen Wagnerseetirern fort und fort uns
aufgetischt wird, ist Gumprecht's klare und scharfe Beurtheilung des vielum¬
strittenen Mannes und seiner Schöpfungen eine wahre Erquickung. Diese
drei Aufsätze gehören zu dem Besten, was je über Wagner geschrieben worden
ist; wir stehen keinen Augenblick an, sie dicht neben Otto Jahn's Aufsätze
über "Tannhäuser" und "Lohengrin" zu stellen. Gumprecht hat eine zu tiefe
künstlerische und ästhetische, eine zu umfassende allgemeine Bildung und einen zu
weiten eulturgeschichtlichen Blick, als daß er etwa das Kind mit dem Bade
verschütten und ein Gegner und Verächter Wagner's schlechthin sein könnte,
wie es deren ja genug giebt. Er erkennt an. was irgend an seinen Bestrebun¬
gen anzuerkennen ist; ja es ist. als ob er. um nicht parteiisch zu erscheinen,
alle anerkennenswerther Seiten geflissentlich aufsuchte. Um so bedeutungs-
voller ist dann sein Verdiet. welches er nach den vorausgegangenen Etnzelbe-
trachtungen in dem Aufsatze über das "Gesammtkunstwerk" Wagner's zu¬
sammen faßt. An der Hand der unverbrüchlichen, im Wesen der Künste selbst
begründeten Gesetze einerseits, an der Hand der Kunstgeschichte andrerseits


Seite ihre mächtige Wirkung auf dem Felde der musikalischen Reproduktion,
im Hause, im Theater und im Concert, und zeigt endlich, welche Bedeutung
die Frauen der Musik gegenüber als genießendes Publicum, als Stimm¬
führerinnen und Parteigängerinnen haben, und wie sie dadurch sogar auf die musi¬
kalische Produktion Einfluß gewinnen. Im zweiten Aufsatz: „Klatschen und Zischen"
erörtert der Verfasser die Gründe, weshalb Beifallsbezeugungen für den ausführen-
den Künstler Werth haben, und giebt eine Reihe feiner Auseinandersetzungen über
das Wesen des Beifalls in seinen verschiedenen Spielarten nebst treffenden
Bemerkungen über die ungehörigen Formen desselben. Den dritten und
fünften Aufsatz bilden eingehende, liebevoll und reich ausgeführte Charakteri¬
stiken Carl Löwe's, des großen Balladencomponisten, und Joseph Joachim's
des „Königs der Geiger". Der sechste und letzte Aufsatz des Buches: „Zum
Gedächtniß Beethoven's" enthält zwei Nummern; die erste beschäftigt sich mit
der schönen und unglücklichen Julia Guicciardi, der Heldin von Beethoven's
Cis-moll-Sonate, weist an der Hand Thayer's, des neuesten Beethovenbiogra¬
phen, nach, in wie maßloser Weise die kleine Herzensgeschichte des Meisters
aufgebauscht worden ist, und scheidet zwischen dem, worin ihr historischer Kern
besteht und dem, was die Beethovenlegende hinzugedichtet hat; die zweite
Nummer ist eine schwungvolle Gedächtnißrede auf Beethoven, geschrieben oder
gesprochen bei Gelegenheit der Säcularfeier 1870. Bei weitem den wichtigsten
Abschnitt des ganzen Buches aber bilden die an vierter Stelle zusammenge¬
faßten drei Aufsätze, die sich mit Richard Wagner beschäftigen: „Tristan und
Isolde" — „die Meistersinger" — „das bestehende Opernwesen und das Ge-
sammtkunstwerk". Dem gräulich unreifen Gefasel gegenüber, welches in unsern
musikalischen Zeitschriften von fanatischen Wagnerseetirern fort und fort uns
aufgetischt wird, ist Gumprecht's klare und scharfe Beurtheilung des vielum¬
strittenen Mannes und seiner Schöpfungen eine wahre Erquickung. Diese
drei Aufsätze gehören zu dem Besten, was je über Wagner geschrieben worden
ist; wir stehen keinen Augenblick an, sie dicht neben Otto Jahn's Aufsätze
über „Tannhäuser" und „Lohengrin" zu stellen. Gumprecht hat eine zu tiefe
künstlerische und ästhetische, eine zu umfassende allgemeine Bildung und einen zu
weiten eulturgeschichtlichen Blick, als daß er etwa das Kind mit dem Bade
verschütten und ein Gegner und Verächter Wagner's schlechthin sein könnte,
wie es deren ja genug giebt. Er erkennt an. was irgend an seinen Bestrebun¬
gen anzuerkennen ist; ja es ist. als ob er. um nicht parteiisch zu erscheinen,
alle anerkennenswerther Seiten geflissentlich aufsuchte. Um so bedeutungs-
voller ist dann sein Verdiet. welches er nach den vorausgegangenen Etnzelbe-
trachtungen in dem Aufsatze über das „Gesammtkunstwerk" Wagner's zu¬
sammen faßt. An der Hand der unverbrüchlichen, im Wesen der Künste selbst
begründeten Gesetze einerseits, an der Hand der Kunstgeschichte andrerseits


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/203>, abgerufen am 23.11.2024.