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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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erwähnt wurden, so verwandelten sie sich im Laufe der Zeit in übernatürliche
Wesen, mit welchen die Phantasie namentlich der grönländischen Eskimo das
unwirthliche Innere ihres Landes bevölkert.

Die Sagen geben ein treues Bild von dem, was zu allen Zeiten die
Phantasie des Volkes am meisten beschäftigt hat, was es einerseits am Men-
schen und der Natur für groß und schön ansah, und was es andrerseits haßte
oder fürchtete. Sie zeigen uns allenthalben das schwere Ringen um die Exi¬
stenz, welches bewirkt hat, daß Muth. Kraft und Geschicklichkeit als die erste
Bedingung des Glückes bewundert werden. Die Idee dagegen, sich das Leben
durch Erwerb von Eigenthum sicherer und behaglicher zu gestalten, ist in
ihnen nur kärglich entwickelt. Eigentliche Liebesgeschichten treffen wir unter
ihnen nicht. Nur dumpf erklingt in ihnen die Stimme des Gewissens, der
Gedanke an eine regierende und strafende unsichtbare Gerechtigkeit. In den
meisten Sagen und Mythen spielen See- und Landungeheuer übernatürlicher
Art, böse Erd- und Meergeister und die Art, sich die guten durch Zauberei
dienstbar zu machen, Zauberlieder, Amulete, Todtenerscheinungen, Verwand¬
lungen von Menschen in Thiere und von Thieren in Menschen eine Rolle.
Eigenthümlich ist, daß bestimmte Stellungen im Leben, gewisse Altersklassen
fast stets mit demselben Charakter auftreten. Die arme Wittwe ist immer
gutherzig und mitleidig, die Hausfrau erscheint stets als nur auf ihren Haus¬
halt bedacht, eine Gruppe von mehreren Brüdern repräsentirt überall Hoch¬
muth und Gewaltthätigkeit, und "der Mittelste" von ihnen geberdet sich als
neidischer. Alte Junggesellen endlich haben stets einen lächerlichen Zug und
ein komisches Schicksal. Gewöhnlich erweckt ein schönes Weib ihre Leiden¬
schaft , aber wenn sie sich ihr nähern oder sie fassen, ist sie eine Möve oder
ein Stein. Andere heirathen einen Zwerg oder ein Frauenzimmer ohne
Brüste. Einer macht sich aus einem Stück Eis eine Insel, auf der er als
Einsiedler lebt. Wieder ein Andrer bleibt, als er bei einer Brautfahrt einen
Korb bekommen hat und, mit seinem Boot an den Felsen der Küste hin¬
fahrend, aus einem Quell trinkt, mit den Lippen am Gestein kleben, und
diese zerren sich, als die Ebbe eintritt und das Boot mit sich nimmt, zu lang¬
gezogenen Lefzen aus.

Nun aber mag eine Auswahl aus diesen Eskimosagen selbst für deren
Geist sprechen.

Kakortuliak war auf der Rennthierjagd, wo sie ein sehr großes Thier
verwundeten, welches ihnen aber entging, indem es in einen See sprang.
Kakortuliak verfolgte es schwimmend und befestigte einen Riemen an sein
Geweih, an dem er es an's Land zog. Er nahm sich ein großes Stück Talg
und verließ damit seine Gefährten, um anderem Wilde nachzuspüren. Da sah
er zwei Raben, die einander verfolgten , als er sie aber genauer betrachtete,


erwähnt wurden, so verwandelten sie sich im Laufe der Zeit in übernatürliche
Wesen, mit welchen die Phantasie namentlich der grönländischen Eskimo das
unwirthliche Innere ihres Landes bevölkert.

Die Sagen geben ein treues Bild von dem, was zu allen Zeiten die
Phantasie des Volkes am meisten beschäftigt hat, was es einerseits am Men-
schen und der Natur für groß und schön ansah, und was es andrerseits haßte
oder fürchtete. Sie zeigen uns allenthalben das schwere Ringen um die Exi¬
stenz, welches bewirkt hat, daß Muth. Kraft und Geschicklichkeit als die erste
Bedingung des Glückes bewundert werden. Die Idee dagegen, sich das Leben
durch Erwerb von Eigenthum sicherer und behaglicher zu gestalten, ist in
ihnen nur kärglich entwickelt. Eigentliche Liebesgeschichten treffen wir unter
ihnen nicht. Nur dumpf erklingt in ihnen die Stimme des Gewissens, der
Gedanke an eine regierende und strafende unsichtbare Gerechtigkeit. In den
meisten Sagen und Mythen spielen See- und Landungeheuer übernatürlicher
Art, böse Erd- und Meergeister und die Art, sich die guten durch Zauberei
dienstbar zu machen, Zauberlieder, Amulete, Todtenerscheinungen, Verwand¬
lungen von Menschen in Thiere und von Thieren in Menschen eine Rolle.
Eigenthümlich ist, daß bestimmte Stellungen im Leben, gewisse Altersklassen
fast stets mit demselben Charakter auftreten. Die arme Wittwe ist immer
gutherzig und mitleidig, die Hausfrau erscheint stets als nur auf ihren Haus¬
halt bedacht, eine Gruppe von mehreren Brüdern repräsentirt überall Hoch¬
muth und Gewaltthätigkeit, und „der Mittelste" von ihnen geberdet sich als
neidischer. Alte Junggesellen endlich haben stets einen lächerlichen Zug und
ein komisches Schicksal. Gewöhnlich erweckt ein schönes Weib ihre Leiden¬
schaft , aber wenn sie sich ihr nähern oder sie fassen, ist sie eine Möve oder
ein Stein. Andere heirathen einen Zwerg oder ein Frauenzimmer ohne
Brüste. Einer macht sich aus einem Stück Eis eine Insel, auf der er als
Einsiedler lebt. Wieder ein Andrer bleibt, als er bei einer Brautfahrt einen
Korb bekommen hat und, mit seinem Boot an den Felsen der Küste hin¬
fahrend, aus einem Quell trinkt, mit den Lippen am Gestein kleben, und
diese zerren sich, als die Ebbe eintritt und das Boot mit sich nimmt, zu lang¬
gezogenen Lefzen aus.

Nun aber mag eine Auswahl aus diesen Eskimosagen selbst für deren
Geist sprechen.

Kakortuliak war auf der Rennthierjagd, wo sie ein sehr großes Thier
verwundeten, welches ihnen aber entging, indem es in einen See sprang.
Kakortuliak verfolgte es schwimmend und befestigte einen Riemen an sein
Geweih, an dem er es an's Land zog. Er nahm sich ein großes Stück Talg
und verließ damit seine Gefährten, um anderem Wilde nachzuspüren. Da sah
er zwei Raben, die einander verfolgten , als er sie aber genauer betrachtete,


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[0171] erwähnt wurden, so verwandelten sie sich im Laufe der Zeit in übernatürliche Wesen, mit welchen die Phantasie namentlich der grönländischen Eskimo das unwirthliche Innere ihres Landes bevölkert. Die Sagen geben ein treues Bild von dem, was zu allen Zeiten die Phantasie des Volkes am meisten beschäftigt hat, was es einerseits am Men- schen und der Natur für groß und schön ansah, und was es andrerseits haßte oder fürchtete. Sie zeigen uns allenthalben das schwere Ringen um die Exi¬ stenz, welches bewirkt hat, daß Muth. Kraft und Geschicklichkeit als die erste Bedingung des Glückes bewundert werden. Die Idee dagegen, sich das Leben durch Erwerb von Eigenthum sicherer und behaglicher zu gestalten, ist in ihnen nur kärglich entwickelt. Eigentliche Liebesgeschichten treffen wir unter ihnen nicht. Nur dumpf erklingt in ihnen die Stimme des Gewissens, der Gedanke an eine regierende und strafende unsichtbare Gerechtigkeit. In den meisten Sagen und Mythen spielen See- und Landungeheuer übernatürlicher Art, böse Erd- und Meergeister und die Art, sich die guten durch Zauberei dienstbar zu machen, Zauberlieder, Amulete, Todtenerscheinungen, Verwand¬ lungen von Menschen in Thiere und von Thieren in Menschen eine Rolle. Eigenthümlich ist, daß bestimmte Stellungen im Leben, gewisse Altersklassen fast stets mit demselben Charakter auftreten. Die arme Wittwe ist immer gutherzig und mitleidig, die Hausfrau erscheint stets als nur auf ihren Haus¬ halt bedacht, eine Gruppe von mehreren Brüdern repräsentirt überall Hoch¬ muth und Gewaltthätigkeit, und „der Mittelste" von ihnen geberdet sich als neidischer. Alte Junggesellen endlich haben stets einen lächerlichen Zug und ein komisches Schicksal. Gewöhnlich erweckt ein schönes Weib ihre Leiden¬ schaft , aber wenn sie sich ihr nähern oder sie fassen, ist sie eine Möve oder ein Stein. Andere heirathen einen Zwerg oder ein Frauenzimmer ohne Brüste. Einer macht sich aus einem Stück Eis eine Insel, auf der er als Einsiedler lebt. Wieder ein Andrer bleibt, als er bei einer Brautfahrt einen Korb bekommen hat und, mit seinem Boot an den Felsen der Küste hin¬ fahrend, aus einem Quell trinkt, mit den Lippen am Gestein kleben, und diese zerren sich, als die Ebbe eintritt und das Boot mit sich nimmt, zu lang¬ gezogenen Lefzen aus. Nun aber mag eine Auswahl aus diesen Eskimosagen selbst für deren Geist sprechen. Kakortuliak war auf der Rennthierjagd, wo sie ein sehr großes Thier verwundeten, welches ihnen aber entging, indem es in einen See sprang. Kakortuliak verfolgte es schwimmend und befestigte einen Riemen an sein Geweih, an dem er es an's Land zog. Er nahm sich ein großes Stück Talg und verließ damit seine Gefährten, um anderem Wilde nachzuspüren. Da sah er zwei Raben, die einander verfolgten , als er sie aber genauer betrachtete,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/171>, abgerufen am 27.07.2024.