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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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haben, was sich thun läßt. Aus den englischen Parlamentsverhandlungen
z. B. bei Gelegenheit der Chartistenbewegung geht hervor, daß man drüben
solche Dinge nicht so gemüthlich nimmt, wie bei uns. Eine Reihe von Ge¬
setzen sind dort erlassen worden, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, ohne
daß sie sich "freiheitsmörderisch" erwiesen hätten. Die Briten haben zu der
Staatsgewalt und ihren Organen mehr Vertrauen, während wir, in Folge
langer polizeilicher Drangsale, an dieser Stelle nervös geworden sind. Bei
schwachen Nerven setzt sich leicht der Verfolgungswahn fest. --

Auch die englischen Schulen sorgen dafür, in die jugendlichen Köpfe
gesunde wtrthschaftliche Grundsätze zu pflanzen, bevor sie dem Parteitreiben
anheim fallen und Vorurtheile und Leidenschaften sich einnisten können. Eng¬
land besitzt, und zwar schon seit einem halben Jahrhundert, über 4000 Schulen,
in denen die Elemente der Nationalökonomie gelehrt werden, und unser Wil¬
helm Röscher erklärt daraus das "Wunder, daß Großbritannien inmitten
der Erschütterungen des Jahres 1849 trotz aller dort vorhandenen Zündstoffe
ruhig und unversehrt blieb". Hierin kann England andren Nationen als
Vorbild dienen, wie in der öffentlichen Gesundheitspflege. In einigen
Kreisen gehört es neuerdings zum guten Tone, zu thun, als ob alles was
jenseits des Canals gewachsen ist, eine Verpflanzung nicht vertrüge oder nicht
verdiene, und zu verlangen, daß bei uns alles "wurzelecht" sein müsse; dies
ist aber nur der Rückschlag gegen übermäßige und kritiklose Anpreisungen
alles britischen, wie sie in vormärzlicher Zeit in Deutschland Mode waren.

Ohne Anhänger der Weltansicht A. Schopenhauer's zu sein, muß man
ihm doch darin zustimmen, daß der "Intellect" dem "Willen" (worunter er
Triebe versteht) gegenüber eine schwächliche Rolle spielt. Die Triebe, Ge¬
lüste, Leidenschaften von Menschen, die in folgerichtigem Denken ungeübt sind,
werden von den Agitatoren methodisch angefacht und für ihre persönlichen
und politischen Zwecke ausgenutzt, wenn auch nicht wohl anzunehmen ist, daß
die Gesinnungen und Grundsätze, die sich in der socialistischen Presse und den
agitatorischen Reden aussprechen, von allen Parteigenossen getheilt werden.
Dem zu begegnen bedarf es unzweifelhaft noch ganz anderer Anstrengungen
als der bisherigen. Es müssen die Ursachen der Unzufriedenheit so weit als
möglich hinweggeschafft werden. Weder Noth noch Unzufriedenheit werden
zwar jemals von der Erde ganz verschwinden, der Socialismus hätte aber
unmöglich so hoch emporwachsen können, wenn nicht manche Arbeitgeber
Herzen aus dem Stein-, Stirnen aus dem Bronze- und wirthschaftliche An¬
schauungen aus dem Pyramiden-Zettalter gehabt hätten. Alle müssen wir
bauen helfen an den Dämmen, welche die Gesellschaft schützen können gegen
eine Überschwemmung mit Umsturzideen. Noch heute sind Hunderttausende


haben, was sich thun läßt. Aus den englischen Parlamentsverhandlungen
z. B. bei Gelegenheit der Chartistenbewegung geht hervor, daß man drüben
solche Dinge nicht so gemüthlich nimmt, wie bei uns. Eine Reihe von Ge¬
setzen sind dort erlassen worden, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, ohne
daß sie sich „freiheitsmörderisch" erwiesen hätten. Die Briten haben zu der
Staatsgewalt und ihren Organen mehr Vertrauen, während wir, in Folge
langer polizeilicher Drangsale, an dieser Stelle nervös geworden sind. Bei
schwachen Nerven setzt sich leicht der Verfolgungswahn fest. —

Auch die englischen Schulen sorgen dafür, in die jugendlichen Köpfe
gesunde wtrthschaftliche Grundsätze zu pflanzen, bevor sie dem Parteitreiben
anheim fallen und Vorurtheile und Leidenschaften sich einnisten können. Eng¬
land besitzt, und zwar schon seit einem halben Jahrhundert, über 4000 Schulen,
in denen die Elemente der Nationalökonomie gelehrt werden, und unser Wil¬
helm Röscher erklärt daraus das „Wunder, daß Großbritannien inmitten
der Erschütterungen des Jahres 1849 trotz aller dort vorhandenen Zündstoffe
ruhig und unversehrt blieb". Hierin kann England andren Nationen als
Vorbild dienen, wie in der öffentlichen Gesundheitspflege. In einigen
Kreisen gehört es neuerdings zum guten Tone, zu thun, als ob alles was
jenseits des Canals gewachsen ist, eine Verpflanzung nicht vertrüge oder nicht
verdiene, und zu verlangen, daß bei uns alles „wurzelecht" sein müsse; dies
ist aber nur der Rückschlag gegen übermäßige und kritiklose Anpreisungen
alles britischen, wie sie in vormärzlicher Zeit in Deutschland Mode waren.

Ohne Anhänger der Weltansicht A. Schopenhauer's zu sein, muß man
ihm doch darin zustimmen, daß der „Intellect" dem „Willen" (worunter er
Triebe versteht) gegenüber eine schwächliche Rolle spielt. Die Triebe, Ge¬
lüste, Leidenschaften von Menschen, die in folgerichtigem Denken ungeübt sind,
werden von den Agitatoren methodisch angefacht und für ihre persönlichen
und politischen Zwecke ausgenutzt, wenn auch nicht wohl anzunehmen ist, daß
die Gesinnungen und Grundsätze, die sich in der socialistischen Presse und den
agitatorischen Reden aussprechen, von allen Parteigenossen getheilt werden.
Dem zu begegnen bedarf es unzweifelhaft noch ganz anderer Anstrengungen
als der bisherigen. Es müssen die Ursachen der Unzufriedenheit so weit als
möglich hinweggeschafft werden. Weder Noth noch Unzufriedenheit werden
zwar jemals von der Erde ganz verschwinden, der Socialismus hätte aber
unmöglich so hoch emporwachsen können, wenn nicht manche Arbeitgeber
Herzen aus dem Stein-, Stirnen aus dem Bronze- und wirthschaftliche An¬
schauungen aus dem Pyramiden-Zettalter gehabt hätten. Alle müssen wir
bauen helfen an den Dämmen, welche die Gesellschaft schützen können gegen
eine Überschwemmung mit Umsturzideen. Noch heute sind Hunderttausende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/107>, abgerufen am 27.11.2024.