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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Vorwitz" so Viele, denen es keineswegs an Einsicht fehlt, zu thatlosem,
achselzuckendem Geschehenlassen verführt.

Bis in die kleinsten Einzelheiten geht jenes Streben. So z. B. eröffnete
vor etwa 28 Jahren ein I^sttsr to tds Läitor der Times den Kampf gegen
das bis dahin für Visitenkarten fast ausschließlich gebrauchte Glacepapier mit
dem Nachweise, daß die Bereitung dieser Kalkmasse die Gesundheit der Arbeiter
schädigt. Zeitungen schlossen sich mit Leitartikeln an, der Vorstand eines
angesehenen Clubs forderte seine Gesellschaftsgenossen zu der schriftlichen
Willenserklärung auf, künftig ihre Karten nicht mehr auf dieses Papier
drucken zu lassen, einige Damen der vornehmen Welt verwendeten sich in
ihren Kreisen für den nämlichen Zweck, und es dauerte kein Jahr, so war
die Sache durchgesetzt: -- man benutzte fast nur noch Cartonpapier für Karten,
glacirte galten für unfashionable, nicht gentlsmanlilcs. Auch in derlei kleinen
Dingen tritt der charakteristische Unterschied in den nationalen Anschauungen
hervor. In Frankreich wird die Ehre darin gesucht, für nowms us monäs
zu gelten, Geburt, Stellung, Aeußerlichkeiten, Schliff, Appretur geben den
Ausschlag, was dahinter steckt, ist nebensächlich; der Engländer bezeichnet mit
gLntlömem, was ihm in geselliger und allgemein menschlicher Beziehung
erstrebenswert!), mustergiltig scheint, und der Begriff des Worts legt dem
Träger Verpflichtungen auf, welche im Sittlichen ihren Schwerpunkt haben.
So hoben denn auch die den Gegenstand behandelnden französischen Journal¬
artikel zunächst das sxtsrieur äistin^ne und die Neuheit des Satinpapiers
hervor, und thaten nur beiläufig des Umstands Erwähnung, daß die Fabri¬
kation des letzteren (die Erfindung ist französisch) gesundheitswidrig sei.

Hier noch ein Beispiel aus neuester Zeit wie praktische Staatsmänner
in England sich zu diesen Fragen stellen. Bei einem Meeting in Manchester
sagte Disraeli folgendes: "Nach meinem Dafürhalten ist Verbesserung des
Gesundheitszustandes des Volkes die sociale Aufgabe, welche allen anderen
voranzugehen hat und in erster Reihe die Aufmerksamkeit der Politiker jeder
Partei in Anspruch nehmen muß. Gute Wohnung, Reinheit des Trinkwassers
und der Athemluft, unverdorbene Nahrung, sind Bedingungen der Menschen¬
wohlfahrt____ Ich wiederhole, die bygieinischen überragen an Wichtigkeit
alle anderen Gegenstände, und für den praktischen Staatsmann darf keiner
höher stehen.... Ich muß nachdrücklich wiederholen, daß die bygieinischen
Fragen nicht nur schwerer ins Gewicht fallen, als alle anderen das Staats-
interesse betreffende, und zwar nicht nur schwerer als die principiellen Fragen,
welche Parteien scheiden, sondern auch schwerer noch als jene, die durch ihre
hohe Bedeutung alle Parteiunterschiede verwischen." -- Darauf sprach sich
Lord Derby in ganz gleichem Sinne aus. "... . Die Menschen lernen es
nur langsam begreifen, bis zu welchem Grade ihr Wohlbefinden von ihnen


Vorwitz" so Viele, denen es keineswegs an Einsicht fehlt, zu thatlosem,
achselzuckendem Geschehenlassen verführt.

Bis in die kleinsten Einzelheiten geht jenes Streben. So z. B. eröffnete
vor etwa 28 Jahren ein I^sttsr to tds Läitor der Times den Kampf gegen
das bis dahin für Visitenkarten fast ausschließlich gebrauchte Glacepapier mit
dem Nachweise, daß die Bereitung dieser Kalkmasse die Gesundheit der Arbeiter
schädigt. Zeitungen schlossen sich mit Leitartikeln an, der Vorstand eines
angesehenen Clubs forderte seine Gesellschaftsgenossen zu der schriftlichen
Willenserklärung auf, künftig ihre Karten nicht mehr auf dieses Papier
drucken zu lassen, einige Damen der vornehmen Welt verwendeten sich in
ihren Kreisen für den nämlichen Zweck, und es dauerte kein Jahr, so war
die Sache durchgesetzt: — man benutzte fast nur noch Cartonpapier für Karten,
glacirte galten für unfashionable, nicht gentlsmanlilcs. Auch in derlei kleinen
Dingen tritt der charakteristische Unterschied in den nationalen Anschauungen
hervor. In Frankreich wird die Ehre darin gesucht, für nowms us monäs
zu gelten, Geburt, Stellung, Aeußerlichkeiten, Schliff, Appretur geben den
Ausschlag, was dahinter steckt, ist nebensächlich; der Engländer bezeichnet mit
gLntlömem, was ihm in geselliger und allgemein menschlicher Beziehung
erstrebenswert!), mustergiltig scheint, und der Begriff des Worts legt dem
Träger Verpflichtungen auf, welche im Sittlichen ihren Schwerpunkt haben.
So hoben denn auch die den Gegenstand behandelnden französischen Journal¬
artikel zunächst das sxtsrieur äistin^ne und die Neuheit des Satinpapiers
hervor, und thaten nur beiläufig des Umstands Erwähnung, daß die Fabri¬
kation des letzteren (die Erfindung ist französisch) gesundheitswidrig sei.

Hier noch ein Beispiel aus neuester Zeit wie praktische Staatsmänner
in England sich zu diesen Fragen stellen. Bei einem Meeting in Manchester
sagte Disraeli folgendes: „Nach meinem Dafürhalten ist Verbesserung des
Gesundheitszustandes des Volkes die sociale Aufgabe, welche allen anderen
voranzugehen hat und in erster Reihe die Aufmerksamkeit der Politiker jeder
Partei in Anspruch nehmen muß. Gute Wohnung, Reinheit des Trinkwassers
und der Athemluft, unverdorbene Nahrung, sind Bedingungen der Menschen¬
wohlfahrt____ Ich wiederhole, die bygieinischen überragen an Wichtigkeit
alle anderen Gegenstände, und für den praktischen Staatsmann darf keiner
höher stehen.... Ich muß nachdrücklich wiederholen, daß die bygieinischen
Fragen nicht nur schwerer ins Gewicht fallen, als alle anderen das Staats-
interesse betreffende, und zwar nicht nur schwerer als die principiellen Fragen,
welche Parteien scheiden, sondern auch schwerer noch als jene, die durch ihre
hohe Bedeutung alle Parteiunterschiede verwischen." — Darauf sprach sich
Lord Derby in ganz gleichem Sinne aus. „... . Die Menschen lernen es
nur langsam begreifen, bis zu welchem Grade ihr Wohlbefinden von ihnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/92>, abgerufen am 22.07.2024.