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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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ganzen civilisirten Welt, mit allen Gesetzen, allen Sitten, allem Uebereinkom-
men und allen sittlichen Regeln der Welt. Er ist dieser Welt gegenüber ein
erbarmungsloser Feind, und wenn er fortfährt, in ihr zu leben, so geschieht
es nur, um sie desto sicherer zu verderben. 3. Der Revolutionär verachtet alle
Doctrinen und hat auf alle Wissenschaft dieser Welt verzichtet, indem er sie zu¬
künftigen G-'schlechtern überläßt. Er kennt nur eine Wissenschaft, die der
Zerstörung. 4. Der Revolutionär ist ein verdammter Mensch, ohne irgend¬
welches Erbarmen gegenüber dem Staate und den gebildeten Klassen der Ge¬
sellschaft, von denen er ebensowenig Erbarmen erwartet. Zwischen ihm und
ihnen wüthet ein tödtliches Ringen, offen oder insgeheim, aber unaufhörlich
und unversöhnlich. Er muß Martern ertragen lernen. 6. Streng gegen sich
selbst, muß er auch streng gegen Andere sein. Oft müssen alle zarten und
weibischen Gefühle von Liebe zur Familie, Freundschaft, Frauenliebe, Dank¬
barkeit, selbst von Ehre, in seiner Brust erstickt werden durch die eine kalte
Leidenschaft der Revolution. Für ihn giebt es nur eine Ruhe, nur einen
Trost, nur einen Lohn, nur eine Genugthuung, den Erfolg der Revolution.
Bei Tag und bei Nacht darf er nur einen Gedanken, nur ein Ziel haben -- Zer¬
störung ohne Gnade. 8. Der Revolutionär kann keinen Freund haben und
nur auf diejenigen Bedacht und Rücksicht nehmen, die sich der revolutionären
Arbeit wie er selbst gewidmet haben. Der Grad der Freundschaft, der Hin¬
gebung und anderer Verpflichtungen gegen einen derartigen Genossen wird
einzig und allein durch den Grad der Nützlichkeit desselben für das Werk der
praktischen Revolution bestimmt, welche Alles zu zerstören beabsichtigt. 10.
Jeder Genosse des Bundes sollte zu seiner Verfügung eine Anzahl von Revo¬
lutionären zweiter oder dritter Classe, d. h. solcher haben, die nicht völlig
eingeweiht sind. 11. Wenn ein Genosse in Noth oder Gefahr kommt, und
es sich fragt, ob man ihn retten soll, hat der Revolutionär nicht mit seinen
persönlichen Gefühlen zu Rathe zu gehen, sondern allein das Interesse der
revolutionären Sache entscheiden zu lassen. Er muß daher den Betrag von
Nützlichkeit, den ein solcher Genosse repräsentirt, gegen den Verlust an revo¬
lutionärer Kraft, den seine Rettung erfordert, abwägen und seine Entschei¬
dung nach Gewicht und Werth treffen."

Man sieht, es ist die Negation alles Bestehenden bis zu einer Sublimi-
tät destillirt, wo sie einfach teuflisch sein würde, wenn sie praktische Anwen¬
dung erführe, die Uebersetzung des mephistophelischen Spruchs: "Alles was
besteht, ist werth, daß es zu Grunde geht" in das Politische. Glücklicher¬
weise ließ der Herrgott der Ziege den Schwanz nicht zu lang wachsen. Die
Verbindung der Nihilisten, dieser politischen Buddhisten, blieb auf eine ge¬
ringe Zahl von jungen Herren beschränkt, die mehr von sich reden machten
als sie verdienten, und die mit ihrer Ertödtung alles natürlichen Empfindens


ganzen civilisirten Welt, mit allen Gesetzen, allen Sitten, allem Uebereinkom-
men und allen sittlichen Regeln der Welt. Er ist dieser Welt gegenüber ein
erbarmungsloser Feind, und wenn er fortfährt, in ihr zu leben, so geschieht
es nur, um sie desto sicherer zu verderben. 3. Der Revolutionär verachtet alle
Doctrinen und hat auf alle Wissenschaft dieser Welt verzichtet, indem er sie zu¬
künftigen G-'schlechtern überläßt. Er kennt nur eine Wissenschaft, die der
Zerstörung. 4. Der Revolutionär ist ein verdammter Mensch, ohne irgend¬
welches Erbarmen gegenüber dem Staate und den gebildeten Klassen der Ge¬
sellschaft, von denen er ebensowenig Erbarmen erwartet. Zwischen ihm und
ihnen wüthet ein tödtliches Ringen, offen oder insgeheim, aber unaufhörlich
und unversöhnlich. Er muß Martern ertragen lernen. 6. Streng gegen sich
selbst, muß er auch streng gegen Andere sein. Oft müssen alle zarten und
weibischen Gefühle von Liebe zur Familie, Freundschaft, Frauenliebe, Dank¬
barkeit, selbst von Ehre, in seiner Brust erstickt werden durch die eine kalte
Leidenschaft der Revolution. Für ihn giebt es nur eine Ruhe, nur einen
Trost, nur einen Lohn, nur eine Genugthuung, den Erfolg der Revolution.
Bei Tag und bei Nacht darf er nur einen Gedanken, nur ein Ziel haben — Zer¬
störung ohne Gnade. 8. Der Revolutionär kann keinen Freund haben und
nur auf diejenigen Bedacht und Rücksicht nehmen, die sich der revolutionären
Arbeit wie er selbst gewidmet haben. Der Grad der Freundschaft, der Hin¬
gebung und anderer Verpflichtungen gegen einen derartigen Genossen wird
einzig und allein durch den Grad der Nützlichkeit desselben für das Werk der
praktischen Revolution bestimmt, welche Alles zu zerstören beabsichtigt. 10.
Jeder Genosse des Bundes sollte zu seiner Verfügung eine Anzahl von Revo¬
lutionären zweiter oder dritter Classe, d. h. solcher haben, die nicht völlig
eingeweiht sind. 11. Wenn ein Genosse in Noth oder Gefahr kommt, und
es sich fragt, ob man ihn retten soll, hat der Revolutionär nicht mit seinen
persönlichen Gefühlen zu Rathe zu gehen, sondern allein das Interesse der
revolutionären Sache entscheiden zu lassen. Er muß daher den Betrag von
Nützlichkeit, den ein solcher Genosse repräsentirt, gegen den Verlust an revo¬
lutionärer Kraft, den seine Rettung erfordert, abwägen und seine Entschei¬
dung nach Gewicht und Werth treffen."

Man sieht, es ist die Negation alles Bestehenden bis zu einer Sublimi-
tät destillirt, wo sie einfach teuflisch sein würde, wenn sie praktische Anwen¬
dung erführe, die Uebersetzung des mephistophelischen Spruchs: „Alles was
besteht, ist werth, daß es zu Grunde geht" in das Politische. Glücklicher¬
weise ließ der Herrgott der Ziege den Schwanz nicht zu lang wachsen. Die
Verbindung der Nihilisten, dieser politischen Buddhisten, blieb auf eine ge¬
ringe Zahl von jungen Herren beschränkt, die mehr von sich reden machten
als sie verdienten, und die mit ihrer Ertödtung alles natürlichen Empfindens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/78>, abgerufen am 24.08.2024.