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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Von dem Volksleben freilich, das sich dereinst in diesen Gauen fröhlich
entfaltet, sehen wir jetzt nur noch verkümmerte Spuren, es hat noch mehr,
als das Land unter dem Einfluße schwerer Zeiten gelitten, und was etwa zu
Ende des Jahrhunderts noch bestand, ward durch den furchtbaren Rückschlag
der Revolution vertilgt. So haben sich die originellen Trachten, die man im
Elsaß doch noch manchmal findet, bei den Frauen fast ganz verloren und bei
den Männern nimmt die blaue Blouse, dies Zeichen wachsender 6Mut6 immer
mehr überHand. Auch die alten Sagen, an denen das Land einst reich war,
sind erloschen oder verblaßt, soweit sie nicht noch in den Bergeswäldern der
Vogesen eine Zuflucht fanden.

Lange Zeit ward einst am Johannistage das uralte Feuer geschürt und
das verkohlte Scheit, das man aus den geweihten Flammen nahm, sollte das
Haus vor allem Zauber des Bösen schützen, das Wasser, das man in der
Neujahrsnacht schöpfte, hatte heilsame Kraft und in der Tiefe des Brunnens
glaubten die Mädchen das Bild des Liebsten zu sehen, der ihnen im kommen¬
den Jahre beschieden war. Nicht leicht war der Glaube an Gespenster und
Hexen in irgend einem Lande dermaßen verbreitet wie in Lothringen (wo man
binnen 16 Jahren 900 Personen verbrannte) und mit allen Mitteln wehrte
sich das Volk noch lang gegen ihre geheime Kraft; an der Thüre stand das
heilige Zeichen, man segnete die Häuser aus und besprengte Stall und Wohn¬
gemach mit geweihtem Wasser. Aber ob man damit auch die Dämonen aus
dem Haus vertrieben wähnte, aus der Seele des Volkes waren sie nicht ge¬
bannt, dort blieb noch durch viele Geschlechter hin ihre geheime Zufluchtstätte,
kein Segen und kein Fluch konnte sie dort erreichen. Zu einsamer Stunde,
in den Spinn- und Kunkelstuben kamen sie leise hervor, dort raunten die
Mädchen sich flüsternd zu, an welchem Kreuzweg noch, an welchen Stellen
des Waldes die weißen Gestalten vorüberhuschen, in welchen Nächten man es
knistern und seufzen hört, bis vor dem Schritt des Fremden die Rede plötzlich
verstummt.

In jenen Gegenden, wo noch die Wölfe Hausen, kann man wohl auch
noch Spuren der alten Wehrwolfsage finden, man glaubte, daß es gewissen
Menschen gegeben sei, sich in jene Ungethüme zu verwandeln und auf solche
Art den Heerden des Nachbars zu schaden.

Die Sitten und Bräuche, die im Volksleben von Lothringen ehe¬
dem lebendig waren, schlössen sich zum Theil an einzelne Feste an, oder sie
umgaben als sinniger Schmuck jene drei entscheidenden Augenblicke in jedem
Menschenleben, Geburt, Hochzeit und Tod. Se. Valentinstag wird in den
Gegenden der senke von den jungen Paaren gefeiert; in manchen Dörfern
hielt man dem tugendhaftesten Mädchen ein Rosenfest, auch der Mai wird
von den Kindern mit allerlei Spiel begrüßt.


Grenzboten I. 187K. 59

Von dem Volksleben freilich, das sich dereinst in diesen Gauen fröhlich
entfaltet, sehen wir jetzt nur noch verkümmerte Spuren, es hat noch mehr,
als das Land unter dem Einfluße schwerer Zeiten gelitten, und was etwa zu
Ende des Jahrhunderts noch bestand, ward durch den furchtbaren Rückschlag
der Revolution vertilgt. So haben sich die originellen Trachten, die man im
Elsaß doch noch manchmal findet, bei den Frauen fast ganz verloren und bei
den Männern nimmt die blaue Blouse, dies Zeichen wachsender 6Mut6 immer
mehr überHand. Auch die alten Sagen, an denen das Land einst reich war,
sind erloschen oder verblaßt, soweit sie nicht noch in den Bergeswäldern der
Vogesen eine Zuflucht fanden.

Lange Zeit ward einst am Johannistage das uralte Feuer geschürt und
das verkohlte Scheit, das man aus den geweihten Flammen nahm, sollte das
Haus vor allem Zauber des Bösen schützen, das Wasser, das man in der
Neujahrsnacht schöpfte, hatte heilsame Kraft und in der Tiefe des Brunnens
glaubten die Mädchen das Bild des Liebsten zu sehen, der ihnen im kommen¬
den Jahre beschieden war. Nicht leicht war der Glaube an Gespenster und
Hexen in irgend einem Lande dermaßen verbreitet wie in Lothringen (wo man
binnen 16 Jahren 900 Personen verbrannte) und mit allen Mitteln wehrte
sich das Volk noch lang gegen ihre geheime Kraft; an der Thüre stand das
heilige Zeichen, man segnete die Häuser aus und besprengte Stall und Wohn¬
gemach mit geweihtem Wasser. Aber ob man damit auch die Dämonen aus
dem Haus vertrieben wähnte, aus der Seele des Volkes waren sie nicht ge¬
bannt, dort blieb noch durch viele Geschlechter hin ihre geheime Zufluchtstätte,
kein Segen und kein Fluch konnte sie dort erreichen. Zu einsamer Stunde,
in den Spinn- und Kunkelstuben kamen sie leise hervor, dort raunten die
Mädchen sich flüsternd zu, an welchem Kreuzweg noch, an welchen Stellen
des Waldes die weißen Gestalten vorüberhuschen, in welchen Nächten man es
knistern und seufzen hört, bis vor dem Schritt des Fremden die Rede plötzlich
verstummt.

In jenen Gegenden, wo noch die Wölfe Hausen, kann man wohl auch
noch Spuren der alten Wehrwolfsage finden, man glaubte, daß es gewissen
Menschen gegeben sei, sich in jene Ungethüme zu verwandeln und auf solche
Art den Heerden des Nachbars zu schaden.

Die Sitten und Bräuche, die im Volksleben von Lothringen ehe¬
dem lebendig waren, schlössen sich zum Theil an einzelne Feste an, oder sie
umgaben als sinniger Schmuck jene drei entscheidenden Augenblicke in jedem
Menschenleben, Geburt, Hochzeit und Tod. Se. Valentinstag wird in den
Gegenden der senke von den jungen Paaren gefeiert; in manchen Dörfern
hielt man dem tugendhaftesten Mädchen ein Rosenfest, auch der Mai wird
von den Kindern mit allerlei Spiel begrüßt.


Grenzboten I. 187K. 59
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[0473] Von dem Volksleben freilich, das sich dereinst in diesen Gauen fröhlich entfaltet, sehen wir jetzt nur noch verkümmerte Spuren, es hat noch mehr, als das Land unter dem Einfluße schwerer Zeiten gelitten, und was etwa zu Ende des Jahrhunderts noch bestand, ward durch den furchtbaren Rückschlag der Revolution vertilgt. So haben sich die originellen Trachten, die man im Elsaß doch noch manchmal findet, bei den Frauen fast ganz verloren und bei den Männern nimmt die blaue Blouse, dies Zeichen wachsender 6Mut6 immer mehr überHand. Auch die alten Sagen, an denen das Land einst reich war, sind erloschen oder verblaßt, soweit sie nicht noch in den Bergeswäldern der Vogesen eine Zuflucht fanden. Lange Zeit ward einst am Johannistage das uralte Feuer geschürt und das verkohlte Scheit, das man aus den geweihten Flammen nahm, sollte das Haus vor allem Zauber des Bösen schützen, das Wasser, das man in der Neujahrsnacht schöpfte, hatte heilsame Kraft und in der Tiefe des Brunnens glaubten die Mädchen das Bild des Liebsten zu sehen, der ihnen im kommen¬ den Jahre beschieden war. Nicht leicht war der Glaube an Gespenster und Hexen in irgend einem Lande dermaßen verbreitet wie in Lothringen (wo man binnen 16 Jahren 900 Personen verbrannte) und mit allen Mitteln wehrte sich das Volk noch lang gegen ihre geheime Kraft; an der Thüre stand das heilige Zeichen, man segnete die Häuser aus und besprengte Stall und Wohn¬ gemach mit geweihtem Wasser. Aber ob man damit auch die Dämonen aus dem Haus vertrieben wähnte, aus der Seele des Volkes waren sie nicht ge¬ bannt, dort blieb noch durch viele Geschlechter hin ihre geheime Zufluchtstätte, kein Segen und kein Fluch konnte sie dort erreichen. Zu einsamer Stunde, in den Spinn- und Kunkelstuben kamen sie leise hervor, dort raunten die Mädchen sich flüsternd zu, an welchem Kreuzweg noch, an welchen Stellen des Waldes die weißen Gestalten vorüberhuschen, in welchen Nächten man es knistern und seufzen hört, bis vor dem Schritt des Fremden die Rede plötzlich verstummt. In jenen Gegenden, wo noch die Wölfe Hausen, kann man wohl auch noch Spuren der alten Wehrwolfsage finden, man glaubte, daß es gewissen Menschen gegeben sei, sich in jene Ungethüme zu verwandeln und auf solche Art den Heerden des Nachbars zu schaden. Die Sitten und Bräuche, die im Volksleben von Lothringen ehe¬ dem lebendig waren, schlössen sich zum Theil an einzelne Feste an, oder sie umgaben als sinniger Schmuck jene drei entscheidenden Augenblicke in jedem Menschenleben, Geburt, Hochzeit und Tod. Se. Valentinstag wird in den Gegenden der senke von den jungen Paaren gefeiert; in manchen Dörfern hielt man dem tugendhaftesten Mädchen ein Rosenfest, auch der Mai wird von den Kindern mit allerlei Spiel begrüßt. Grenzboten I. 187K. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/473>, abgerufen am 24.08.2024.