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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Gesellschaften, durch deren Gewähr die Nation und ihre sittliche Einheit un¬
barmherzig zerrissen werden müßte. Es muß Wunder nehmen, daß Herr
Reichensperger diesen Punkt gar nicht einmal erwähnt, obwohl ihn Gneist in
einer meisterhaften Rede ausgeführt hat, deren Hörer Herr Reichensperger ge¬
wesen ist.

Es war eine Gefahr für den deutschen Staat, seine Unterthanen in
steigender Zahl in sclavischer Abhängigkeit von Rom zu sehen, und dieselbe
Gefahr bedrohte den Protestantismus. Herr Reichensperger sagt, der letztere
stelle sich ein Armuthszeugniß aus, wenn er eingestehe, im freien Wettkampf
nicht bestehen zu können. Aber Herr Reichensperger übersieht, daß er einen
Kampf mit den ungleichsten Waffen fordert. Der römische Glaube besitzt
einen machtvollen Organismus, der protestantische Glaube hat keinen Organis¬
mus als den Staat. Wenn man nun fordert, der Protestantismus solle mit
Rom streiten und der Staat blos Zuschauer sein, so fordert man, daß ein
nackter Mann mit einem bis an die Zähne gewaffneter streitet. ,

Herr Reichensperger wendet sich sodann gegen einzelne Kirchengesetze.
Man kann ihm zugeben, daß das Gesetz über die Vermögensverwaltung in
den katholischen Kirchengemeinden weder eine wirksame Maßregel dem Inhalte
nach, noch der Form nach eine ganz gerechte enthält. Daß man die Wahl¬
berechtigung mit dem 21. Jahre anheben läßt, vertheidigen wir nicht, daß
aber zu derselben Berechtigung keine kirchlichen Merkmale gefordert werden,
ist doch wohl daraus zu erklären, daß der katholische Clerus das Recht der
Ausschließung in weitem Maße besitzt und übt, was bei dem protestantischen
Kirchenregiment bis jetzt nicht der Fall ist. Was sodann die Behandlung
der Altkatholiken betrifft, als wären sie noch Mitglieder der römischen Kirche,
so halten auch wir die Fortsetzung dieser Fiction nicht für richtig, aber nur
aus Zweckmäßigkeitsgründen. Die Rechtsgründe, welche Herr Reichensperger
vorbringt, halten keiner Prüfung stand. Der Staat hat doch die römische
Kirche privilegirt auf Grund eines bestimmten Charakters, also bestimmter
Dogmen und einer bestimmten Verfassung. Wenn nun Dogma und Ver¬
fassung in einschneidendster Weise geändert werden, so verfährt der Staat
sehr schonend, wenn er, anstatt alle Privilegien zu widerrufen, nur neue
Bürgschaften von mäßigem Umfang fordert und wenn er denen, die den
früheren kirchlichen Charakter bewahren wollen, eine Zeitlang wenigstens die
früheren Rechte sichert. Wir glauben allerdings, daß die Altkatholiken un¬
vermeidlich etwas anderes werden müssen und schon geworden sind, als vor-
vaticanische Katholiken. Darum ist es politisch richtig, ihr Recht gegenüber
dem Staat künftig durch eine eigene Ordnung zu regeln. Der Vaticanischen
Kirche gegenüber aber sind neue Bürgschaften unerläßlich. Denn was hilft
die immer wiederholte Behauptung, durch das Unfehlbarkeitsdogma sei weder


Gesellschaften, durch deren Gewähr die Nation und ihre sittliche Einheit un¬
barmherzig zerrissen werden müßte. Es muß Wunder nehmen, daß Herr
Reichensperger diesen Punkt gar nicht einmal erwähnt, obwohl ihn Gneist in
einer meisterhaften Rede ausgeführt hat, deren Hörer Herr Reichensperger ge¬
wesen ist.

Es war eine Gefahr für den deutschen Staat, seine Unterthanen in
steigender Zahl in sclavischer Abhängigkeit von Rom zu sehen, und dieselbe
Gefahr bedrohte den Protestantismus. Herr Reichensperger sagt, der letztere
stelle sich ein Armuthszeugniß aus, wenn er eingestehe, im freien Wettkampf
nicht bestehen zu können. Aber Herr Reichensperger übersieht, daß er einen
Kampf mit den ungleichsten Waffen fordert. Der römische Glaube besitzt
einen machtvollen Organismus, der protestantische Glaube hat keinen Organis¬
mus als den Staat. Wenn man nun fordert, der Protestantismus solle mit
Rom streiten und der Staat blos Zuschauer sein, so fordert man, daß ein
nackter Mann mit einem bis an die Zähne gewaffneter streitet. ,

Herr Reichensperger wendet sich sodann gegen einzelne Kirchengesetze.
Man kann ihm zugeben, daß das Gesetz über die Vermögensverwaltung in
den katholischen Kirchengemeinden weder eine wirksame Maßregel dem Inhalte
nach, noch der Form nach eine ganz gerechte enthält. Daß man die Wahl¬
berechtigung mit dem 21. Jahre anheben läßt, vertheidigen wir nicht, daß
aber zu derselben Berechtigung keine kirchlichen Merkmale gefordert werden,
ist doch wohl daraus zu erklären, daß der katholische Clerus das Recht der
Ausschließung in weitem Maße besitzt und übt, was bei dem protestantischen
Kirchenregiment bis jetzt nicht der Fall ist. Was sodann die Behandlung
der Altkatholiken betrifft, als wären sie noch Mitglieder der römischen Kirche,
so halten auch wir die Fortsetzung dieser Fiction nicht für richtig, aber nur
aus Zweckmäßigkeitsgründen. Die Rechtsgründe, welche Herr Reichensperger
vorbringt, halten keiner Prüfung stand. Der Staat hat doch die römische
Kirche privilegirt auf Grund eines bestimmten Charakters, also bestimmter
Dogmen und einer bestimmten Verfassung. Wenn nun Dogma und Ver¬
fassung in einschneidendster Weise geändert werden, so verfährt der Staat
sehr schonend, wenn er, anstatt alle Privilegien zu widerrufen, nur neue
Bürgschaften von mäßigem Umfang fordert und wenn er denen, die den
früheren kirchlichen Charakter bewahren wollen, eine Zeitlang wenigstens die
früheren Rechte sichert. Wir glauben allerdings, daß die Altkatholiken un¬
vermeidlich etwas anderes werden müssen und schon geworden sind, als vor-
vaticanische Katholiken. Darum ist es politisch richtig, ihr Recht gegenüber
dem Staat künftig durch eine eigene Ordnung zu regeln. Der Vaticanischen
Kirche gegenüber aber sind neue Bürgschaften unerläßlich. Denn was hilft
die immer wiederholte Behauptung, durch das Unfehlbarkeitsdogma sei weder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/274>, abgerufen am 24.08.2024.