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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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für sich stets die Ueberordnung über den Staat verlangt und diesen Anspruch
bis zur Stunde niemals gemildert, geschweige denn aufgegeben hat. Ist es
nöthig. an weltgeschichtliche Akte und Dokumente, ist es nöthig, an die Bulle
Bonifacius' VIII. zu erinnern? wo wären diese Akte jemals widerrufen
worden? Und wie können sie widerrufen werden, seitdem das vatikanische
Concil die Unfehlbarkeit doch nicht bloß den künftigen Päpsten zugesprochen,
was das Concil gar nicht gekonnt hätte, sondern vielmehr die Unfehlbarkeit
als die von Anbeginn der Kirche den Nachfolgern Christi durch Gott ver¬
liehene Eigenschaft verkündigt hat?

Indem wir abwarten, wie der Kenner der römischen Politik und Theo¬
logie diese Frage beantwortet, fragen wir den guten Logiker ob eine voll¬
kommene Coordination lebendiger Kräfte verschiedener Gewalten überhaupt im
Reiche der Denkbarkeit liegt. Herr Reichensperger kommt selbst darauf
zu sprechen, daß diese Coordination zwei Fälle hat: entweder die von-
eordia, inter Imperium et saeerÄotium, welche Herr Reichensperger als
das ideale Verhältniß bezeichnet, oder die sogenannte Trennung von Staat
und Kirche, welche auf der Fiction beruht, daß beide Gewalten sich
nicht zu berühren brauchen. Die Eintracht setzt offenbar einen gegensei¬
tigen Einfluß voraus, die Trennung dagegen setzt voraus, daß zur Wahrung
der Grenze eine entscheidende Instanz vorhanden ist. Wenn nun eine dritte
Gewalt über Staat und Kirche nicht zu finden ist, so kann es nur der Staat
oder die Kirche sein, welche die Grenze zieht und überwacht. Wenn dieses
Recht von jedem Theil in Anspruch genommen wird, so haben wir das Recht
des Stärkeren mit seinem zeitweiligen Kriegszustand; soll aber Eintracht und
Zrsammenwirken erstrebt werden, so darf kein Theil den Einfluß des andern
einseitig abwehren, und wenn dies dennoch geschieht, so haben wir abermals
das Recht des Stärkeren und den zeitweiligen Kriegszustand. Im Mittel¬
alter entwickelte sich dieser Kriegszustand auf dem Boden und unter der Vor¬
aussetzung der Eintracht und die Kirche blieb im Wesentlichen während dieser
Epoche in Deutschland wenigstens Siegerin. Neuerdings entwickelt sich der
Kriegszustand auf schwankenden Voraussetzungen, bald wird die Trennung
zur Grundlage genommen und der Staat beansprucht nur das Recht der
Grenzfeststellung, bald wird der nothwendige Einfluß des Staates auf die
Kirche zur Grundlage genommen. In diesem Kriegszustand sehn wir im
Ganzen und Großen die Kirche nur noch zeitweilig als Siegerin. Die Theorie
des Herrn Reichensperger aber von der reinen Coordination herrscht nirgends,
als im Reich der Phantasie. Und was die Erfahrung zeigt, das bestätigt
die Logik. Es giebt im ganzen Universum nicht zwei Dinge, die vollkommen
gleich sind, und ebensowenig zwei Dinge, die verschieden und indem sie sich
aus eigner Kraft nebeneinander bewegen, gleich unabhängig sind.


für sich stets die Ueberordnung über den Staat verlangt und diesen Anspruch
bis zur Stunde niemals gemildert, geschweige denn aufgegeben hat. Ist es
nöthig. an weltgeschichtliche Akte und Dokumente, ist es nöthig, an die Bulle
Bonifacius' VIII. zu erinnern? wo wären diese Akte jemals widerrufen
worden? Und wie können sie widerrufen werden, seitdem das vatikanische
Concil die Unfehlbarkeit doch nicht bloß den künftigen Päpsten zugesprochen,
was das Concil gar nicht gekonnt hätte, sondern vielmehr die Unfehlbarkeit
als die von Anbeginn der Kirche den Nachfolgern Christi durch Gott ver¬
liehene Eigenschaft verkündigt hat?

Indem wir abwarten, wie der Kenner der römischen Politik und Theo¬
logie diese Frage beantwortet, fragen wir den guten Logiker ob eine voll¬
kommene Coordination lebendiger Kräfte verschiedener Gewalten überhaupt im
Reiche der Denkbarkeit liegt. Herr Reichensperger kommt selbst darauf
zu sprechen, daß diese Coordination zwei Fälle hat: entweder die von-
eordia, inter Imperium et saeerÄotium, welche Herr Reichensperger als
das ideale Verhältniß bezeichnet, oder die sogenannte Trennung von Staat
und Kirche, welche auf der Fiction beruht, daß beide Gewalten sich
nicht zu berühren brauchen. Die Eintracht setzt offenbar einen gegensei¬
tigen Einfluß voraus, die Trennung dagegen setzt voraus, daß zur Wahrung
der Grenze eine entscheidende Instanz vorhanden ist. Wenn nun eine dritte
Gewalt über Staat und Kirche nicht zu finden ist, so kann es nur der Staat
oder die Kirche sein, welche die Grenze zieht und überwacht. Wenn dieses
Recht von jedem Theil in Anspruch genommen wird, so haben wir das Recht
des Stärkeren mit seinem zeitweiligen Kriegszustand; soll aber Eintracht und
Zrsammenwirken erstrebt werden, so darf kein Theil den Einfluß des andern
einseitig abwehren, und wenn dies dennoch geschieht, so haben wir abermals
das Recht des Stärkeren und den zeitweiligen Kriegszustand. Im Mittel¬
alter entwickelte sich dieser Kriegszustand auf dem Boden und unter der Vor¬
aussetzung der Eintracht und die Kirche blieb im Wesentlichen während dieser
Epoche in Deutschland wenigstens Siegerin. Neuerdings entwickelt sich der
Kriegszustand auf schwankenden Voraussetzungen, bald wird die Trennung
zur Grundlage genommen und der Staat beansprucht nur das Recht der
Grenzfeststellung, bald wird der nothwendige Einfluß des Staates auf die
Kirche zur Grundlage genommen. In diesem Kriegszustand sehn wir im
Ganzen und Großen die Kirche nur noch zeitweilig als Siegerin. Die Theorie
des Herrn Reichensperger aber von der reinen Coordination herrscht nirgends,
als im Reich der Phantasie. Und was die Erfahrung zeigt, das bestätigt
die Logik. Es giebt im ganzen Universum nicht zwei Dinge, die vollkommen
gleich sind, und ebensowenig zwei Dinge, die verschieden und indem sie sich
aus eigner Kraft nebeneinander bewegen, gleich unabhängig sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/272>, abgerufen am 25.08.2024.