Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Darüber hatten wir die Kraftworte unseres Berliners vergessen. Als sie uns
dann wiederkamen, waren sie uns Räthsel, die wir uns nur auf die Weise
zu lösen vermochten, daß wir annahmen, der Kritikus gehöre zu der Species
seines Handwerks, von welcher das Sprichwort von der Kuh und der Mus-
cate gilt, oder er habe sich nur aufs Gerathewohl eine und die andere Seite des
starken Bandes angesehen, sei dabei unglücklicherweise auf die Stellen in der
dritten Novelle gestoßen, wo von gewissen berliner Schmierern und Sudlern
geringschätzig gesprochen wird, und habe seinem Verdrusse darüber in jenen
kernigen Ausdrücken das Ventil geöffnet. Die Möglichkeit, daß Beides der
Fall war, grenzt an Wahrscheinlichkeit.

Die sechs Novellen der Sammlung sind von ungleichem Werthe. Die
erste: "Ein leidenschaftlicher Erdenptlger" schildert uns den Aus¬
gang eines verfehlten, noch einmal in einer gewissen Schönheit ausflackernden,
dann in Nervenzerrüttung und halbem Wahnsinn erlöschenden Lebens. Ein
Amerikaner greift, nachdem er, begabt, gutherzig, aber willenlos, phantastisch
und träge, seine besten Jahre vertrödelt und dabei seine Mittel bis auf einen
geringen Rest aufgezehrt hat, nach dem Strohhalm eines Erbanspruches auf
einen Antheil an großen Gütern im Innern Englands. In London darüber
aufgeklärt, daß sein Anspruch sehr zweifelhaft ist, giebt er ihn auf und denkt
an die Heimkehr, als er den Verfasser kennen lernt, der Gefallen an seiner
enthusiastischen und feinfühligen Denkart findet, ihm Muth einspricht und
ihn, nachdem sie mit einander gewisse landschaftliche Schönheiten Londons
genossen, veranlaßt, mit ihm das Gut zu besuchen, auf das jener Anspruch
sich bezieht. Auf der Reise dahin gewinnt Searle -- so heißt unser Held --
neue Lebensfrische. In dem Schlosse des Gutes lernt er seine Cousine ken¬
nen, eine Liebe entspinnt sich zwischen beiden, und einen Augenblick darf
man auf eine glückliche Wendung im Geschicke des leidenschaftlichen Erden¬
pilgers hoffen, als der Bruder dieser Hoffnung brüsk den Garaus macht.
Searle knickt darüber zusammen, seine körperliche Krankheit und sein Trüb¬
sinn kehren wieder, und nachdem er im Genusse des Studentenlebens und der
schönen Umgebung von Oxford noch einige Lichtblicke gehabt und die durch
den plötzlichen Tod ihres Bruders frei gewordene Geliebte noch einmal ge¬
sehen, geht es mit ihm zu Ende. Das Talent des Verfassers, Dinge und
Menschen zu malen und die Stimmung der Landschaft wiederzugeben, ist
außerordentlich groß. Aber der Eindruck, den sein Held auf uns macht, ist
ein peinlicher, die Heldin hat einen Anflug von Lächerlichkett, ein zweites
verfehltes Leben, das uns in einer Nebenfigur zu Oxford entgegentritt, ist
geradezu Ueberfluß. Das Ganze ist in Nebel und Wolkenschatten gehüllt,
schwermüthig, kränklich, mit Ausnahme einiger Stellen, wo die Sonne durch-


Darüber hatten wir die Kraftworte unseres Berliners vergessen. Als sie uns
dann wiederkamen, waren sie uns Räthsel, die wir uns nur auf die Weise
zu lösen vermochten, daß wir annahmen, der Kritikus gehöre zu der Species
seines Handwerks, von welcher das Sprichwort von der Kuh und der Mus-
cate gilt, oder er habe sich nur aufs Gerathewohl eine und die andere Seite des
starken Bandes angesehen, sei dabei unglücklicherweise auf die Stellen in der
dritten Novelle gestoßen, wo von gewissen berliner Schmierern und Sudlern
geringschätzig gesprochen wird, und habe seinem Verdrusse darüber in jenen
kernigen Ausdrücken das Ventil geöffnet. Die Möglichkeit, daß Beides der
Fall war, grenzt an Wahrscheinlichkeit.

Die sechs Novellen der Sammlung sind von ungleichem Werthe. Die
erste: „Ein leidenschaftlicher Erdenptlger" schildert uns den Aus¬
gang eines verfehlten, noch einmal in einer gewissen Schönheit ausflackernden,
dann in Nervenzerrüttung und halbem Wahnsinn erlöschenden Lebens. Ein
Amerikaner greift, nachdem er, begabt, gutherzig, aber willenlos, phantastisch
und träge, seine besten Jahre vertrödelt und dabei seine Mittel bis auf einen
geringen Rest aufgezehrt hat, nach dem Strohhalm eines Erbanspruches auf
einen Antheil an großen Gütern im Innern Englands. In London darüber
aufgeklärt, daß sein Anspruch sehr zweifelhaft ist, giebt er ihn auf und denkt
an die Heimkehr, als er den Verfasser kennen lernt, der Gefallen an seiner
enthusiastischen und feinfühligen Denkart findet, ihm Muth einspricht und
ihn, nachdem sie mit einander gewisse landschaftliche Schönheiten Londons
genossen, veranlaßt, mit ihm das Gut zu besuchen, auf das jener Anspruch
sich bezieht. Auf der Reise dahin gewinnt Searle — so heißt unser Held —
neue Lebensfrische. In dem Schlosse des Gutes lernt er seine Cousine ken¬
nen, eine Liebe entspinnt sich zwischen beiden, und einen Augenblick darf
man auf eine glückliche Wendung im Geschicke des leidenschaftlichen Erden¬
pilgers hoffen, als der Bruder dieser Hoffnung brüsk den Garaus macht.
Searle knickt darüber zusammen, seine körperliche Krankheit und sein Trüb¬
sinn kehren wieder, und nachdem er im Genusse des Studentenlebens und der
schönen Umgebung von Oxford noch einige Lichtblicke gehabt und die durch
den plötzlichen Tod ihres Bruders frei gewordene Geliebte noch einmal ge¬
sehen, geht es mit ihm zu Ende. Das Talent des Verfassers, Dinge und
Menschen zu malen und die Stimmung der Landschaft wiederzugeben, ist
außerordentlich groß. Aber der Eindruck, den sein Held auf uns macht, ist
ein peinlicher, die Heldin hat einen Anflug von Lächerlichkett, ein zweites
verfehltes Leben, das uns in einer Nebenfigur zu Oxford entgegentritt, ist
geradezu Ueberfluß. Das Ganze ist in Nebel und Wolkenschatten gehüllt,
schwermüthig, kränklich, mit Ausnahme einiger Stellen, wo die Sonne durch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135313"/>
          <p xml:id="ID_710" prev="#ID_709"> Darüber hatten wir die Kraftworte unseres Berliners vergessen. Als sie uns<lb/>
dann wiederkamen, waren sie uns Räthsel, die wir uns nur auf die Weise<lb/>
zu lösen vermochten, daß wir annahmen, der Kritikus gehöre zu der Species<lb/>
seines Handwerks, von welcher das Sprichwort von der Kuh und der Mus-<lb/>
cate gilt, oder er habe sich nur aufs Gerathewohl eine und die andere Seite des<lb/>
starken Bandes angesehen, sei dabei unglücklicherweise auf die Stellen in der<lb/>
dritten Novelle gestoßen, wo von gewissen berliner Schmierern und Sudlern<lb/>
geringschätzig gesprochen wird, und habe seinem Verdrusse darüber in jenen<lb/>
kernigen Ausdrücken das Ventil geöffnet. Die Möglichkeit, daß Beides der<lb/>
Fall war, grenzt an Wahrscheinlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_711" next="#ID_712"> Die sechs Novellen der Sammlung sind von ungleichem Werthe. Die<lb/>
erste: &#x201E;Ein leidenschaftlicher Erdenptlger" schildert uns den Aus¬<lb/>
gang eines verfehlten, noch einmal in einer gewissen Schönheit ausflackernden,<lb/>
dann in Nervenzerrüttung und halbem Wahnsinn erlöschenden Lebens. Ein<lb/>
Amerikaner greift, nachdem er, begabt, gutherzig, aber willenlos, phantastisch<lb/>
und träge, seine besten Jahre vertrödelt und dabei seine Mittel bis auf einen<lb/>
geringen Rest aufgezehrt hat, nach dem Strohhalm eines Erbanspruches auf<lb/>
einen Antheil an großen Gütern im Innern Englands. In London darüber<lb/>
aufgeklärt, daß sein Anspruch sehr zweifelhaft ist, giebt er ihn auf und denkt<lb/>
an die Heimkehr, als er den Verfasser kennen lernt, der Gefallen an seiner<lb/>
enthusiastischen und feinfühligen Denkart findet, ihm Muth einspricht und<lb/>
ihn, nachdem sie mit einander gewisse landschaftliche Schönheiten Londons<lb/>
genossen, veranlaßt, mit ihm das Gut zu besuchen, auf das jener Anspruch<lb/>
sich bezieht. Auf der Reise dahin gewinnt Searle &#x2014; so heißt unser Held &#x2014;<lb/>
neue Lebensfrische. In dem Schlosse des Gutes lernt er seine Cousine ken¬<lb/>
nen, eine Liebe entspinnt sich zwischen beiden, und einen Augenblick darf<lb/>
man auf eine glückliche Wendung im Geschicke des leidenschaftlichen Erden¬<lb/>
pilgers hoffen, als der Bruder dieser Hoffnung brüsk den Garaus macht.<lb/>
Searle knickt darüber zusammen, seine körperliche Krankheit und sein Trüb¬<lb/>
sinn kehren wieder, und nachdem er im Genusse des Studentenlebens und der<lb/>
schönen Umgebung von Oxford noch einige Lichtblicke gehabt und die durch<lb/>
den plötzlichen Tod ihres Bruders frei gewordene Geliebte noch einmal ge¬<lb/>
sehen, geht es mit ihm zu Ende. Das Talent des Verfassers, Dinge und<lb/>
Menschen zu malen und die Stimmung der Landschaft wiederzugeben, ist<lb/>
außerordentlich groß. Aber der Eindruck, den sein Held auf uns macht, ist<lb/>
ein peinlicher, die Heldin hat einen Anflug von Lächerlichkett, ein zweites<lb/>
verfehltes Leben, das uns in einer Nebenfigur zu Oxford entgegentritt, ist<lb/>
geradezu Ueberfluß. Das Ganze ist in Nebel und Wolkenschatten gehüllt,<lb/>
schwermüthig, kränklich, mit Ausnahme einiger Stellen, wo die Sonne durch-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Darüber hatten wir die Kraftworte unseres Berliners vergessen. Als sie uns dann wiederkamen, waren sie uns Räthsel, die wir uns nur auf die Weise zu lösen vermochten, daß wir annahmen, der Kritikus gehöre zu der Species seines Handwerks, von welcher das Sprichwort von der Kuh und der Mus- cate gilt, oder er habe sich nur aufs Gerathewohl eine und die andere Seite des starken Bandes angesehen, sei dabei unglücklicherweise auf die Stellen in der dritten Novelle gestoßen, wo von gewissen berliner Schmierern und Sudlern geringschätzig gesprochen wird, und habe seinem Verdrusse darüber in jenen kernigen Ausdrücken das Ventil geöffnet. Die Möglichkeit, daß Beides der Fall war, grenzt an Wahrscheinlichkeit. Die sechs Novellen der Sammlung sind von ungleichem Werthe. Die erste: „Ein leidenschaftlicher Erdenptlger" schildert uns den Aus¬ gang eines verfehlten, noch einmal in einer gewissen Schönheit ausflackernden, dann in Nervenzerrüttung und halbem Wahnsinn erlöschenden Lebens. Ein Amerikaner greift, nachdem er, begabt, gutherzig, aber willenlos, phantastisch und träge, seine besten Jahre vertrödelt und dabei seine Mittel bis auf einen geringen Rest aufgezehrt hat, nach dem Strohhalm eines Erbanspruches auf einen Antheil an großen Gütern im Innern Englands. In London darüber aufgeklärt, daß sein Anspruch sehr zweifelhaft ist, giebt er ihn auf und denkt an die Heimkehr, als er den Verfasser kennen lernt, der Gefallen an seiner enthusiastischen und feinfühligen Denkart findet, ihm Muth einspricht und ihn, nachdem sie mit einander gewisse landschaftliche Schönheiten Londons genossen, veranlaßt, mit ihm das Gut zu besuchen, auf das jener Anspruch sich bezieht. Auf der Reise dahin gewinnt Searle — so heißt unser Held — neue Lebensfrische. In dem Schlosse des Gutes lernt er seine Cousine ken¬ nen, eine Liebe entspinnt sich zwischen beiden, und einen Augenblick darf man auf eine glückliche Wendung im Geschicke des leidenschaftlichen Erden¬ pilgers hoffen, als der Bruder dieser Hoffnung brüsk den Garaus macht. Searle knickt darüber zusammen, seine körperliche Krankheit und sein Trüb¬ sinn kehren wieder, und nachdem er im Genusse des Studentenlebens und der schönen Umgebung von Oxford noch einige Lichtblicke gehabt und die durch den plötzlichen Tod ihres Bruders frei gewordene Geliebte noch einmal ge¬ sehen, geht es mit ihm zu Ende. Das Talent des Verfassers, Dinge und Menschen zu malen und die Stimmung der Landschaft wiederzugeben, ist außerordentlich groß. Aber der Eindruck, den sein Held auf uns macht, ist ein peinlicher, die Heldin hat einen Anflug von Lächerlichkett, ein zweites verfehltes Leben, das uns in einer Nebenfigur zu Oxford entgegentritt, ist geradezu Ueberfluß. Das Ganze ist in Nebel und Wolkenschatten gehüllt, schwermüthig, kränklich, mit Ausnahme einiger Stellen, wo die Sonne durch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/260>, abgerufen am 22.07.2024.