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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Weiteres für ein neues Element zu erklären, ebenso wäre es vom Standpunkte
der Rechtswissenschaft durchaus falsch, einen neuen Verbrechensbegriff sich ge¬
fallen zu lassen, bevor sie sich überzeugt hätte, daß mit den vorhandenen
zu einer dem Rechtsbewußtsein und dem Bedürfnisse entsprechenden Strafe
sich nicht gelangen lasse. Dies Interesse der Wissenschaft aber ist nicht min¬
der ein Interesse Derer, welche die Rechtswissenschaft als solche nicht zu küm¬
mern scheint, welche vom Rechte nur möglichsten Schutz der Person und des
Eigenthums und nichts Höheres erwarten und wollen. Je mehr Rechtsbe¬
griffe und speciell auch Verbrechensbegriffe aufgestellt werden, desto schwie¬
riger wird die praktische Handhabung des Rechtes. Die anscheinend rein
ideale Forderung, daß in der großen Organisation des Rechtes keine Wider¬
sprüche vorkommen dürfen, findet praktisch ihren Ausdruck darin, daß, was
die Strafrechtspflege betrifft, der Staatsanwalt jeden Verbrechensbegriff bis
zu den entferntesten Consequenzen zu treiben sucht, der Vertheidiger ihn durch
den Nachweis, daß man es hier mit einer gerade für den fraglichen Fall nicht
passenden ganz speciellen Vorschrift zu thun habe, einzuschränken bemüht ist.
Die Rechtswissenschaft, wenn sie anders noch lebenskräftig und gesund ist, ver¬
hält sich schon aus diesem Grunde der Aufstellung neuer Verbrechensbegriffe
gegenüber meist kritisch und vielfach abwehrend, und hiermit leistet sie dem
Gemeinwesen einen Dienst. Freilich ist das Gesetz ein Geschöpf des Gesetz¬
gebers. Aber einmal erlassen führt es ein selbständiges Leben und kehrt nicht
selten eigenwillig seine Consequenzen selbst gegen die Absichten Desjenigen, der
es ins Leben rief. An Beispielen der Art dürfte gerade in unserer Zeit kein
Mangel sein. Die Consequenzen z. B. des zum Theil in einer ganz un¬
überlegten Weise in das Strafrecht eingeführten Antragsrechtes des Verletzten
waren, so wie sie nachher von der Jurisprudenz anerkannt werden mußten,
vom Gesetzgeber gewiß nicht sämmtlich gewollt, und ähnliche Erfahrungen
hat man bekanntlich auch mit der Gesetzgebung über die Actiengesellschaften
gemacht. Wenn jetzt der Ruf erhoben wird nach einem Specialgesetze über
Explosionen und über explodtrende Stoffe, so wird eben übersehen, daß der
Begriff der Explosion an sich ein ganz unbestimmter, für das Strafrecht
daher unbrauchbarer ist. Natürlich meint man hier Explosionen von größerer
Gefährlichkeit und explodirende Stoffe von der Art oder in der Quanti¬
tät, daß daraus leicht eine Gefahr für Leben und Eigenthum in größerem
Umfange entstehen kann; ohne diesen beschränkenden Zusatz würden die viel¬
fachen kleinen Gasexplosionen, die in größeren Städten so oft und meist
glücklicher Weise ohne erheblichen Schaden vorkommen, die mannigfachen klei¬
nen Explosionen in den chemischen Laboratorien, ja selbst die Explosionen
von Petroleumlampen einerseits und der Besitz oder Transport einiger zur
Jagd zu gebrauchender Lefaucheux-Patronen z. B. anderseits der Strenge des


Weiteres für ein neues Element zu erklären, ebenso wäre es vom Standpunkte
der Rechtswissenschaft durchaus falsch, einen neuen Verbrechensbegriff sich ge¬
fallen zu lassen, bevor sie sich überzeugt hätte, daß mit den vorhandenen
zu einer dem Rechtsbewußtsein und dem Bedürfnisse entsprechenden Strafe
sich nicht gelangen lasse. Dies Interesse der Wissenschaft aber ist nicht min¬
der ein Interesse Derer, welche die Rechtswissenschaft als solche nicht zu küm¬
mern scheint, welche vom Rechte nur möglichsten Schutz der Person und des
Eigenthums und nichts Höheres erwarten und wollen. Je mehr Rechtsbe¬
griffe und speciell auch Verbrechensbegriffe aufgestellt werden, desto schwie¬
riger wird die praktische Handhabung des Rechtes. Die anscheinend rein
ideale Forderung, daß in der großen Organisation des Rechtes keine Wider¬
sprüche vorkommen dürfen, findet praktisch ihren Ausdruck darin, daß, was
die Strafrechtspflege betrifft, der Staatsanwalt jeden Verbrechensbegriff bis
zu den entferntesten Consequenzen zu treiben sucht, der Vertheidiger ihn durch
den Nachweis, daß man es hier mit einer gerade für den fraglichen Fall nicht
passenden ganz speciellen Vorschrift zu thun habe, einzuschränken bemüht ist.
Die Rechtswissenschaft, wenn sie anders noch lebenskräftig und gesund ist, ver¬
hält sich schon aus diesem Grunde der Aufstellung neuer Verbrechensbegriffe
gegenüber meist kritisch und vielfach abwehrend, und hiermit leistet sie dem
Gemeinwesen einen Dienst. Freilich ist das Gesetz ein Geschöpf des Gesetz¬
gebers. Aber einmal erlassen führt es ein selbständiges Leben und kehrt nicht
selten eigenwillig seine Consequenzen selbst gegen die Absichten Desjenigen, der
es ins Leben rief. An Beispielen der Art dürfte gerade in unserer Zeit kein
Mangel sein. Die Consequenzen z. B. des zum Theil in einer ganz un¬
überlegten Weise in das Strafrecht eingeführten Antragsrechtes des Verletzten
waren, so wie sie nachher von der Jurisprudenz anerkannt werden mußten,
vom Gesetzgeber gewiß nicht sämmtlich gewollt, und ähnliche Erfahrungen
hat man bekanntlich auch mit der Gesetzgebung über die Actiengesellschaften
gemacht. Wenn jetzt der Ruf erhoben wird nach einem Specialgesetze über
Explosionen und über explodtrende Stoffe, so wird eben übersehen, daß der
Begriff der Explosion an sich ein ganz unbestimmter, für das Strafrecht
daher unbrauchbarer ist. Natürlich meint man hier Explosionen von größerer
Gefährlichkeit und explodirende Stoffe von der Art oder in der Quanti¬
tät, daß daraus leicht eine Gefahr für Leben und Eigenthum in größerem
Umfange entstehen kann; ohne diesen beschränkenden Zusatz würden die viel¬
fachen kleinen Gasexplosionen, die in größeren Städten so oft und meist
glücklicher Weise ohne erheblichen Schaden vorkommen, die mannigfachen klei¬
nen Explosionen in den chemischen Laboratorien, ja selbst die Explosionen
von Petroleumlampen einerseits und der Besitz oder Transport einiger zur
Jagd zu gebrauchender Lefaucheux-Patronen z. B. anderseits der Strenge des


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[0170] Weiteres für ein neues Element zu erklären, ebenso wäre es vom Standpunkte der Rechtswissenschaft durchaus falsch, einen neuen Verbrechensbegriff sich ge¬ fallen zu lassen, bevor sie sich überzeugt hätte, daß mit den vorhandenen zu einer dem Rechtsbewußtsein und dem Bedürfnisse entsprechenden Strafe sich nicht gelangen lasse. Dies Interesse der Wissenschaft aber ist nicht min¬ der ein Interesse Derer, welche die Rechtswissenschaft als solche nicht zu küm¬ mern scheint, welche vom Rechte nur möglichsten Schutz der Person und des Eigenthums und nichts Höheres erwarten und wollen. Je mehr Rechtsbe¬ griffe und speciell auch Verbrechensbegriffe aufgestellt werden, desto schwie¬ riger wird die praktische Handhabung des Rechtes. Die anscheinend rein ideale Forderung, daß in der großen Organisation des Rechtes keine Wider¬ sprüche vorkommen dürfen, findet praktisch ihren Ausdruck darin, daß, was die Strafrechtspflege betrifft, der Staatsanwalt jeden Verbrechensbegriff bis zu den entferntesten Consequenzen zu treiben sucht, der Vertheidiger ihn durch den Nachweis, daß man es hier mit einer gerade für den fraglichen Fall nicht passenden ganz speciellen Vorschrift zu thun habe, einzuschränken bemüht ist. Die Rechtswissenschaft, wenn sie anders noch lebenskräftig und gesund ist, ver¬ hält sich schon aus diesem Grunde der Aufstellung neuer Verbrechensbegriffe gegenüber meist kritisch und vielfach abwehrend, und hiermit leistet sie dem Gemeinwesen einen Dienst. Freilich ist das Gesetz ein Geschöpf des Gesetz¬ gebers. Aber einmal erlassen führt es ein selbständiges Leben und kehrt nicht selten eigenwillig seine Consequenzen selbst gegen die Absichten Desjenigen, der es ins Leben rief. An Beispielen der Art dürfte gerade in unserer Zeit kein Mangel sein. Die Consequenzen z. B. des zum Theil in einer ganz un¬ überlegten Weise in das Strafrecht eingeführten Antragsrechtes des Verletzten waren, so wie sie nachher von der Jurisprudenz anerkannt werden mußten, vom Gesetzgeber gewiß nicht sämmtlich gewollt, und ähnliche Erfahrungen hat man bekanntlich auch mit der Gesetzgebung über die Actiengesellschaften gemacht. Wenn jetzt der Ruf erhoben wird nach einem Specialgesetze über Explosionen und über explodtrende Stoffe, so wird eben übersehen, daß der Begriff der Explosion an sich ein ganz unbestimmter, für das Strafrecht daher unbrauchbarer ist. Natürlich meint man hier Explosionen von größerer Gefährlichkeit und explodirende Stoffe von der Art oder in der Quanti¬ tät, daß daraus leicht eine Gefahr für Leben und Eigenthum in größerem Umfange entstehen kann; ohne diesen beschränkenden Zusatz würden die viel¬ fachen kleinen Gasexplosionen, die in größeren Städten so oft und meist glücklicher Weise ohne erheblichen Schaden vorkommen, die mannigfachen klei¬ nen Explosionen in den chemischen Laboratorien, ja selbst die Explosionen von Petroleumlampen einerseits und der Besitz oder Transport einiger zur Jagd zu gebrauchender Lefaucheux-Patronen z. B. anderseits der Strenge des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/170>, abgerufen am 22.07.2024.