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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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recht über die Bekenntnisse die Kirche das Mittel ihrer Fortentwicklung von
einer Hüterin des Buchstabens zur Pflegerin einer Geistesreltgion, d. h. über¬
haupt einer wahren Religion erhält. Und Wahrheit ist serner, daß nur eine
Kirche, die nach Umfang und Ausrüstung die Fähigkeit hat, zur National¬
kirche zu werden, im Stande ist, die Religion zugleich fortzubilden und ihr
zugleich den Charakter als Religion zu bewahren, daß nur eine solche Kirche
im Stande ist, den Ausgleich zwischen Kirche und Wissenschaft fortwährend
zu vollziehen, so zu vollziehen, daß nur die wahre Religion als wissenschaft¬
licher Imperativ, und nur die wahre Wissenschaft als kirchlicher Imperativ
auftritt. Niemals vermögen dies kleine Lokalvereinigungen, die von der großen
Gemeinschaft des nationalen Geisteslebens durch souveräne Beschlüsse sich ab¬
zusondern das unverantwortliche Recht erhalten haben. Der Imperativ aller
gesunden kirchlichen Entwicklung lautet: Lehre und verordne so, daß deine
Lehren und Verordnungen den reifsten und edelsten Standpunkt der Bildung
erkennen lassen. Niemals kann dieser Imperativ die Kirche beherrschen, wenn
ihr das Schicksal lokaler Verzettelung aufgelegt wird, darum nicht, weil die
Partikularistischen Gemeinden weder die Kräfte besitzen noch die Verantwort¬
lichkeit tragen, diesem Imperativ zu genügen.

Wir müssen uns nun aber zu der Frage wenden: wie steht die von der
Regierung vorgelegte Generalsynodalordnung zu dem Recht der kirchlichen
Gesetzgebung, und wie hat sich dazu die außerordentliche Generalsynode ver¬
halten?

In dem Erlaß vom 10. September 1873, durch welchen die Kirchenver¬
fassung von dem genannten Tage verkündigt wurde, erklärte der König: es
sollten die Aenderungen des neuen Gesetzes sich auf die kirchliche Verfassung
beschränken; der Bekenntnißstand und die Union in den genannten Provinzen
und den dazu gehörenden Gemeinden sollten durch die neue Ordnung in keiner
Weise berührt werden. Auf der außerordentlichen Generalsynode wurde sofort
ein Zusatz zum ersten Paragraphen der Generalsynodalordnung beantragt,
zu demjenigen Paragraphen, welcher den Umfang des Generalsynodalverbandes
festsetzt. Dieser beantragte Zusatz enthielt die Wiederholung der im königlichen
Erlaß von 1873 hinsichtlich des Bekenntnißstandes gegebenen Zusicherung.
Der Zusatz, welchen der Präsident des Oberkirchenrathes mit Rücksicht auf die
königliche Erklärung nur für überflüssig, aber nicht für den Geist des Gesetzes
widersprechend erklärte, wurde angenommen. Dadurch, könnte man meinen,
sei die Stellung der kirchlichen Gesetzgebung zu den Bekenntnissen in der neuen
Verfassung entschieden. Dies ist aber keineswegs der Fall. Denn die könig¬
liche Erklärung und ihre Wiederholung in der Synodalordnung besagt nur,
daß die Stellung der Bekenntnisse, wie sie bis dahin in der evangelischen
Kirche gewesen, durch das Versassungsgesetz als solches nicht geändert werde?


recht über die Bekenntnisse die Kirche das Mittel ihrer Fortentwicklung von
einer Hüterin des Buchstabens zur Pflegerin einer Geistesreltgion, d. h. über¬
haupt einer wahren Religion erhält. Und Wahrheit ist serner, daß nur eine
Kirche, die nach Umfang und Ausrüstung die Fähigkeit hat, zur National¬
kirche zu werden, im Stande ist, die Religion zugleich fortzubilden und ihr
zugleich den Charakter als Religion zu bewahren, daß nur eine solche Kirche
im Stande ist, den Ausgleich zwischen Kirche und Wissenschaft fortwährend
zu vollziehen, so zu vollziehen, daß nur die wahre Religion als wissenschaft¬
licher Imperativ, und nur die wahre Wissenschaft als kirchlicher Imperativ
auftritt. Niemals vermögen dies kleine Lokalvereinigungen, die von der großen
Gemeinschaft des nationalen Geisteslebens durch souveräne Beschlüsse sich ab¬
zusondern das unverantwortliche Recht erhalten haben. Der Imperativ aller
gesunden kirchlichen Entwicklung lautet: Lehre und verordne so, daß deine
Lehren und Verordnungen den reifsten und edelsten Standpunkt der Bildung
erkennen lassen. Niemals kann dieser Imperativ die Kirche beherrschen, wenn
ihr das Schicksal lokaler Verzettelung aufgelegt wird, darum nicht, weil die
Partikularistischen Gemeinden weder die Kräfte besitzen noch die Verantwort¬
lichkeit tragen, diesem Imperativ zu genügen.

Wir müssen uns nun aber zu der Frage wenden: wie steht die von der
Regierung vorgelegte Generalsynodalordnung zu dem Recht der kirchlichen
Gesetzgebung, und wie hat sich dazu die außerordentliche Generalsynode ver¬
halten?

In dem Erlaß vom 10. September 1873, durch welchen die Kirchenver¬
fassung von dem genannten Tage verkündigt wurde, erklärte der König: es
sollten die Aenderungen des neuen Gesetzes sich auf die kirchliche Verfassung
beschränken; der Bekenntnißstand und die Union in den genannten Provinzen
und den dazu gehörenden Gemeinden sollten durch die neue Ordnung in keiner
Weise berührt werden. Auf der außerordentlichen Generalsynode wurde sofort
ein Zusatz zum ersten Paragraphen der Generalsynodalordnung beantragt,
zu demjenigen Paragraphen, welcher den Umfang des Generalsynodalverbandes
festsetzt. Dieser beantragte Zusatz enthielt die Wiederholung der im königlichen
Erlaß von 1873 hinsichtlich des Bekenntnißstandes gegebenen Zusicherung.
Der Zusatz, welchen der Präsident des Oberkirchenrathes mit Rücksicht auf die
königliche Erklärung nur für überflüssig, aber nicht für den Geist des Gesetzes
widersprechend erklärte, wurde angenommen. Dadurch, könnte man meinen,
sei die Stellung der kirchlichen Gesetzgebung zu den Bekenntnissen in der neuen
Verfassung entschieden. Dies ist aber keineswegs der Fall. Denn die könig¬
liche Erklärung und ihre Wiederholung in der Synodalordnung besagt nur,
daß die Stellung der Bekenntnisse, wie sie bis dahin in der evangelischen
Kirche gewesen, durch das Versassungsgesetz als solches nicht geändert werde?


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[0155] recht über die Bekenntnisse die Kirche das Mittel ihrer Fortentwicklung von einer Hüterin des Buchstabens zur Pflegerin einer Geistesreltgion, d. h. über¬ haupt einer wahren Religion erhält. Und Wahrheit ist serner, daß nur eine Kirche, die nach Umfang und Ausrüstung die Fähigkeit hat, zur National¬ kirche zu werden, im Stande ist, die Religion zugleich fortzubilden und ihr zugleich den Charakter als Religion zu bewahren, daß nur eine solche Kirche im Stande ist, den Ausgleich zwischen Kirche und Wissenschaft fortwährend zu vollziehen, so zu vollziehen, daß nur die wahre Religion als wissenschaft¬ licher Imperativ, und nur die wahre Wissenschaft als kirchlicher Imperativ auftritt. Niemals vermögen dies kleine Lokalvereinigungen, die von der großen Gemeinschaft des nationalen Geisteslebens durch souveräne Beschlüsse sich ab¬ zusondern das unverantwortliche Recht erhalten haben. Der Imperativ aller gesunden kirchlichen Entwicklung lautet: Lehre und verordne so, daß deine Lehren und Verordnungen den reifsten und edelsten Standpunkt der Bildung erkennen lassen. Niemals kann dieser Imperativ die Kirche beherrschen, wenn ihr das Schicksal lokaler Verzettelung aufgelegt wird, darum nicht, weil die Partikularistischen Gemeinden weder die Kräfte besitzen noch die Verantwort¬ lichkeit tragen, diesem Imperativ zu genügen. Wir müssen uns nun aber zu der Frage wenden: wie steht die von der Regierung vorgelegte Generalsynodalordnung zu dem Recht der kirchlichen Gesetzgebung, und wie hat sich dazu die außerordentliche Generalsynode ver¬ halten? In dem Erlaß vom 10. September 1873, durch welchen die Kirchenver¬ fassung von dem genannten Tage verkündigt wurde, erklärte der König: es sollten die Aenderungen des neuen Gesetzes sich auf die kirchliche Verfassung beschränken; der Bekenntnißstand und die Union in den genannten Provinzen und den dazu gehörenden Gemeinden sollten durch die neue Ordnung in keiner Weise berührt werden. Auf der außerordentlichen Generalsynode wurde sofort ein Zusatz zum ersten Paragraphen der Generalsynodalordnung beantragt, zu demjenigen Paragraphen, welcher den Umfang des Generalsynodalverbandes festsetzt. Dieser beantragte Zusatz enthielt die Wiederholung der im königlichen Erlaß von 1873 hinsichtlich des Bekenntnißstandes gegebenen Zusicherung. Der Zusatz, welchen der Präsident des Oberkirchenrathes mit Rücksicht auf die königliche Erklärung nur für überflüssig, aber nicht für den Geist des Gesetzes widersprechend erklärte, wurde angenommen. Dadurch, könnte man meinen, sei die Stellung der kirchlichen Gesetzgebung zu den Bekenntnissen in der neuen Verfassung entschieden. Dies ist aber keineswegs der Fall. Denn die könig¬ liche Erklärung und ihre Wiederholung in der Synodalordnung besagt nur, daß die Stellung der Bekenntnisse, wie sie bis dahin in der evangelischen Kirche gewesen, durch das Versassungsgesetz als solches nicht geändert werde?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/155>, abgerufen am 02.10.2024.