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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Innern der Thiere kommende, nicht von Außen her erzeugte Bewegung wurde
ehedem als das hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden
Reichen der Natur angesehen. Das Thier, so sagte man, bewegt sich, die
Pflanze dagegen wird bewegt. Aber schon lange ist's her, daß man dieses
Merkmal nicht mehr anrufen darf. Selbst Schulknaben wissen das heutzu¬
tage besser. Jeder, der auf Bildung und Kenntniß Anspruch erhebt, hat von
der Fliegen fangenden Dionäe gehört oder gelesen, welche die auf ihren
Blättern herumlaufenden Insecten in ähnlicher Weise erfaßt und tödtet, wie
die Spinne die Fliegen in ihre Gewalt bringt; jedermann kennt wohl auch
die zitternde Desmodie, deren Blätter sich einer willkürlichen Bewegung
erfreuen, die stärker hervortritt als die, welche vielen Thieren zu Theil ge¬
worden ist.

"Abgesehen von diesen Beispielen aber," so fährt unsere Schrift fort,
"möchten wir fragen, was aus dem Beweise wird, der die Unbeweglichkeit
der Gewächse als unterscheidendes Merkmal des Pflanzenreiches gegenüber dem
Thierreiche ansieht, wenn man die Zoophyten (Polypen, Korallen, Madre-
poren u. d.) an den Boden geheftet sieht, während andererseits gewisse junge
Pflanzen oder deren Keime, wie die der Algen, der Moose und der Farn--'
kränker ganz entschieden die Fähigkeit besitzen, sich zu bewegen.

Die Sporen oder Zeugungsorgane der Algen und die befruchtenden
Körperchen der Moose und Farnkräuter haben das Grundmerkmal der Be¬
seeltheit; denn sie sind mit Werkzeugen der Bewegung, den vibrirenden
Wimpern, ausgerüstet, und sie führen durchaus willkürliche Bewegungen aus.
Man sieht diese eigenthümlichen Wesen im Schooße der Flüssigkeiten kommen
und gehen, den Versuch machen, in Höhlungen einzudringen, sich von
ihnen wieder entfernen, abermals heranschwimmen und schließlich mit offen¬
barer Anstrengung sich hineindrängen."

So betrachten deutsche Botaniker diese vegetabilischen Keime als zum
Thierreiche gehörig. In Anbetracht, daß die Thiere allein Bewegungsorgane
haben, und daß die Sporen der Algen und die befruchtenden Körperchen der
Moose und Farnkräuter mit solchen Organen versehen sind, zögern diese ge¬
lehrten Forscher nicht, zu erklären, daß die Algen, die Moose und die Farn¬
kräuter am Anfang ihres Lebens wirkliche Thiere sind, die zu Pflanzen
werden, wenn sie sich festsetzen und sich zu entwickeln anfangen.

Die französischen Botaniker haben noch nicht gewagt, diesen Weg einzu¬
schlagen, sie begnügen sich, die beweglichen Befruchtungskörperchen der Algen,
Moose und Farnkräuter Antherozoiden zu nennen, aber sie getrauen sich
nicht, ihre Beseeltheit zu behaupten.

So erklärt sich, was Pouchet in seinem Buche "das Universum" sagt:

"Die Bewegungskraft äußert sich freiwillig mit außerordentlicher Stärke


Innern der Thiere kommende, nicht von Außen her erzeugte Bewegung wurde
ehedem als das hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden
Reichen der Natur angesehen. Das Thier, so sagte man, bewegt sich, die
Pflanze dagegen wird bewegt. Aber schon lange ist's her, daß man dieses
Merkmal nicht mehr anrufen darf. Selbst Schulknaben wissen das heutzu¬
tage besser. Jeder, der auf Bildung und Kenntniß Anspruch erhebt, hat von
der Fliegen fangenden Dionäe gehört oder gelesen, welche die auf ihren
Blättern herumlaufenden Insecten in ähnlicher Weise erfaßt und tödtet, wie
die Spinne die Fliegen in ihre Gewalt bringt; jedermann kennt wohl auch
die zitternde Desmodie, deren Blätter sich einer willkürlichen Bewegung
erfreuen, die stärker hervortritt als die, welche vielen Thieren zu Theil ge¬
worden ist.

„Abgesehen von diesen Beispielen aber," so fährt unsere Schrift fort,
„möchten wir fragen, was aus dem Beweise wird, der die Unbeweglichkeit
der Gewächse als unterscheidendes Merkmal des Pflanzenreiches gegenüber dem
Thierreiche ansieht, wenn man die Zoophyten (Polypen, Korallen, Madre-
poren u. d.) an den Boden geheftet sieht, während andererseits gewisse junge
Pflanzen oder deren Keime, wie die der Algen, der Moose und der Farn--'
kränker ganz entschieden die Fähigkeit besitzen, sich zu bewegen.

Die Sporen oder Zeugungsorgane der Algen und die befruchtenden
Körperchen der Moose und Farnkräuter haben das Grundmerkmal der Be¬
seeltheit; denn sie sind mit Werkzeugen der Bewegung, den vibrirenden
Wimpern, ausgerüstet, und sie führen durchaus willkürliche Bewegungen aus.
Man sieht diese eigenthümlichen Wesen im Schooße der Flüssigkeiten kommen
und gehen, den Versuch machen, in Höhlungen einzudringen, sich von
ihnen wieder entfernen, abermals heranschwimmen und schließlich mit offen¬
barer Anstrengung sich hineindrängen."

So betrachten deutsche Botaniker diese vegetabilischen Keime als zum
Thierreiche gehörig. In Anbetracht, daß die Thiere allein Bewegungsorgane
haben, und daß die Sporen der Algen und die befruchtenden Körperchen der
Moose und Farnkräuter mit solchen Organen versehen sind, zögern diese ge¬
lehrten Forscher nicht, zu erklären, daß die Algen, die Moose und die Farn¬
kräuter am Anfang ihres Lebens wirkliche Thiere sind, die zu Pflanzen
werden, wenn sie sich festsetzen und sich zu entwickeln anfangen.

Die französischen Botaniker haben noch nicht gewagt, diesen Weg einzu¬
schlagen, sie begnügen sich, die beweglichen Befruchtungskörperchen der Algen,
Moose und Farnkräuter Antherozoiden zu nennen, aber sie getrauen sich
nicht, ihre Beseeltheit zu behaupten.

So erklärt sich, was Pouchet in seinem Buche „das Universum" sagt:

„Die Bewegungskraft äußert sich freiwillig mit außerordentlicher Stärke


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[0347] Innern der Thiere kommende, nicht von Außen her erzeugte Bewegung wurde ehedem als das hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Reichen der Natur angesehen. Das Thier, so sagte man, bewegt sich, die Pflanze dagegen wird bewegt. Aber schon lange ist's her, daß man dieses Merkmal nicht mehr anrufen darf. Selbst Schulknaben wissen das heutzu¬ tage besser. Jeder, der auf Bildung und Kenntniß Anspruch erhebt, hat von der Fliegen fangenden Dionäe gehört oder gelesen, welche die auf ihren Blättern herumlaufenden Insecten in ähnlicher Weise erfaßt und tödtet, wie die Spinne die Fliegen in ihre Gewalt bringt; jedermann kennt wohl auch die zitternde Desmodie, deren Blätter sich einer willkürlichen Bewegung erfreuen, die stärker hervortritt als die, welche vielen Thieren zu Theil ge¬ worden ist. „Abgesehen von diesen Beispielen aber," so fährt unsere Schrift fort, „möchten wir fragen, was aus dem Beweise wird, der die Unbeweglichkeit der Gewächse als unterscheidendes Merkmal des Pflanzenreiches gegenüber dem Thierreiche ansieht, wenn man die Zoophyten (Polypen, Korallen, Madre- poren u. d.) an den Boden geheftet sieht, während andererseits gewisse junge Pflanzen oder deren Keime, wie die der Algen, der Moose und der Farn--' kränker ganz entschieden die Fähigkeit besitzen, sich zu bewegen. Die Sporen oder Zeugungsorgane der Algen und die befruchtenden Körperchen der Moose und Farnkräuter haben das Grundmerkmal der Be¬ seeltheit; denn sie sind mit Werkzeugen der Bewegung, den vibrirenden Wimpern, ausgerüstet, und sie führen durchaus willkürliche Bewegungen aus. Man sieht diese eigenthümlichen Wesen im Schooße der Flüssigkeiten kommen und gehen, den Versuch machen, in Höhlungen einzudringen, sich von ihnen wieder entfernen, abermals heranschwimmen und schließlich mit offen¬ barer Anstrengung sich hineindrängen." So betrachten deutsche Botaniker diese vegetabilischen Keime als zum Thierreiche gehörig. In Anbetracht, daß die Thiere allein Bewegungsorgane haben, und daß die Sporen der Algen und die befruchtenden Körperchen der Moose und Farnkräuter mit solchen Organen versehen sind, zögern diese ge¬ lehrten Forscher nicht, zu erklären, daß die Algen, die Moose und die Farn¬ kräuter am Anfang ihres Lebens wirkliche Thiere sind, die zu Pflanzen werden, wenn sie sich festsetzen und sich zu entwickeln anfangen. Die französischen Botaniker haben noch nicht gewagt, diesen Weg einzu¬ schlagen, sie begnügen sich, die beweglichen Befruchtungskörperchen der Algen, Moose und Farnkräuter Antherozoiden zu nennen, aber sie getrauen sich nicht, ihre Beseeltheit zu behaupten. So erklärt sich, was Pouchet in seinem Buche „das Universum" sagt: „Die Bewegungskraft äußert sich freiwillig mit außerordentlicher Stärke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/347>, abgerufen am 26.06.2024.