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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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fassungsmäßige Regierung eine Einbildung und ein Trug; denn entweder
unterwirft sie dann die Nation den Anmaßungen des römischen Oberpriesters,
oder sie führt, wenn das Land sich diesem erniedrigenden Joche zu unter¬
werfen ansteht, zur Revolution. Das heutige Oesterreich läßt sich dagegen
nicht anführen; denn noch lange ist dort nicht aller Tage Abend gekommen,
und ungefähr dasselbe gilt von Italien. In protestantischen Lande dagegen
entwickelt sich das constitutionelle Regiment immer naturgemäß, wenn auch
bisweilen langsam, denn es ist hier auf heimathlichen Boden.

"Eine andere Ursache der Inferiorität der katholischen Völker ist, daß
das religiöse Gefühl bei den gebildeten und leitenden Klassen schwächer, als bei
denen in protestantischen Ländern ist. Diese Thatsache, von Niemand geläug-
net, erklärt sich unschwer. Zunächst tritt der Katholicismus mit vielen seiner
starren Dogmen, mit seinen zum Theil kindischen Ceremonien, seinen Wundern
und Wallfahrten aus der Atmosphäre des modernen Denkens hinaus, wo¬
gegen der Protestantismus kraft seiner Einfachheit und seinen der Vervoll¬
kommnung fähigen Formen sich demselben anbequemen kann. Renan sagt sehr
richtig: "Die Bildung neuer Secten, die von den Katholiken am Protestan¬
tismus getadelt und als Zeichen der Schwäche behandelt wird, erweist im
Gegentheile/ daß das religiöse Gefühl in den Protestanten noch lebt, da
es schöpferisch ist. Es giebt nichts Todteres als das, was sich nicht mehr
rührt."

Die tiefe Gleichgültigkeit, mit welcher die große Mehrzahl der gebildeten
Katholiken neuerdings zwei neu erfundene Dogmen aufgenommen hat, welche
früher die lebhafteste Opposition wachgerufen und zur Kirchenspaltung geführt
haben würden, ist das Symptom einer unglaublichen Abschwächung des geisti¬
gen Lebens im Schooße des Katholicismus. Zumuthungen an den Glauben,
wie sie die Lehre von der unbefleckten Empfängnis; Marias und von der Un¬
fehlbarkeit des Papstes enthalten, müssen unfehlbar zum Unglauben führen.
Die Mißachtung der Vernunft von Seiten der Kirche gebiert die Mißachtung
der Kirche von Seiten der Vernünftigen. "Ein Familienvater", sagt Geruzet,
"welcher an Gott, aber nicht an den heiligen Cupertin glaubt, steht in Ver¬
legenheit zwischen bigotten und atheistischen Töchtern. Gott bewahre uns vor
dem Atheismus und der Cupertinage." Offenbar hat diese Cupertinage den
Atheismus zur Folge gehabt, und beide haben Frankreich dahin geführt,
wo wir es sehen; denn es ist dort kein Platz mehr für eine vernünftige
Religion.

"Der Katholicismus erzeugt eine so vollkommene Theilnahmlosigkeit in
religiösen Dingen, daß selbst die Kraft, welche zu offenem Austritt aus der
Kirche nöthig wäre, fast allenthalben mangelt. Man sieht, daß Protestanten
katholisch werden, weil sie, einigen Glauben bewahrend, den echten Cultus


fassungsmäßige Regierung eine Einbildung und ein Trug; denn entweder
unterwirft sie dann die Nation den Anmaßungen des römischen Oberpriesters,
oder sie führt, wenn das Land sich diesem erniedrigenden Joche zu unter¬
werfen ansteht, zur Revolution. Das heutige Oesterreich läßt sich dagegen
nicht anführen; denn noch lange ist dort nicht aller Tage Abend gekommen,
und ungefähr dasselbe gilt von Italien. In protestantischen Lande dagegen
entwickelt sich das constitutionelle Regiment immer naturgemäß, wenn auch
bisweilen langsam, denn es ist hier auf heimathlichen Boden.

„Eine andere Ursache der Inferiorität der katholischen Völker ist, daß
das religiöse Gefühl bei den gebildeten und leitenden Klassen schwächer, als bei
denen in protestantischen Ländern ist. Diese Thatsache, von Niemand geläug-
net, erklärt sich unschwer. Zunächst tritt der Katholicismus mit vielen seiner
starren Dogmen, mit seinen zum Theil kindischen Ceremonien, seinen Wundern
und Wallfahrten aus der Atmosphäre des modernen Denkens hinaus, wo¬
gegen der Protestantismus kraft seiner Einfachheit und seinen der Vervoll¬
kommnung fähigen Formen sich demselben anbequemen kann. Renan sagt sehr
richtig: „Die Bildung neuer Secten, die von den Katholiken am Protestan¬
tismus getadelt und als Zeichen der Schwäche behandelt wird, erweist im
Gegentheile/ daß das religiöse Gefühl in den Protestanten noch lebt, da
es schöpferisch ist. Es giebt nichts Todteres als das, was sich nicht mehr
rührt."

Die tiefe Gleichgültigkeit, mit welcher die große Mehrzahl der gebildeten
Katholiken neuerdings zwei neu erfundene Dogmen aufgenommen hat, welche
früher die lebhafteste Opposition wachgerufen und zur Kirchenspaltung geführt
haben würden, ist das Symptom einer unglaublichen Abschwächung des geisti¬
gen Lebens im Schooße des Katholicismus. Zumuthungen an den Glauben,
wie sie die Lehre von der unbefleckten Empfängnis; Marias und von der Un¬
fehlbarkeit des Papstes enthalten, müssen unfehlbar zum Unglauben führen.
Die Mißachtung der Vernunft von Seiten der Kirche gebiert die Mißachtung
der Kirche von Seiten der Vernünftigen. „Ein Familienvater", sagt Geruzet,
»welcher an Gott, aber nicht an den heiligen Cupertin glaubt, steht in Ver¬
legenheit zwischen bigotten und atheistischen Töchtern. Gott bewahre uns vor
dem Atheismus und der Cupertinage." Offenbar hat diese Cupertinage den
Atheismus zur Folge gehabt, und beide haben Frankreich dahin geführt,
wo wir es sehen; denn es ist dort kein Platz mehr für eine vernünftige
Religion.

„Der Katholicismus erzeugt eine so vollkommene Theilnahmlosigkeit in
religiösen Dingen, daß selbst die Kraft, welche zu offenem Austritt aus der
Kirche nöthig wäre, fast allenthalben mangelt. Man sieht, daß Protestanten
katholisch werden, weil sie, einigen Glauben bewahrend, den echten Cultus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/99>, abgerufen am 22.07.2024.