Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Punkt der Regierungen der ist, daß der Staat durch seine Gesetze die Grenzen
bestimmt, innerhalb deren sich jede Religionsgesellschaft zu bewegen hat, damit
jede ihr Recht erhalte. Denn factisch hat sich -- nach Menschenweise -- die
Christengemeinde nicht nur in mehrere große Kirchen gespalten, sondern es stehen
noch viele andere größere und kleinere Religionsgemeinschaften neben den Haupt¬
kirchen, der Staat hat aber die Rechte aller zu schützen. Da:um hat auch der
Staat nach seinem unveräußerlichen Rechte der Selbsterhaltung das Recht,
einen Ausweis über die Lehre oder den Glauben zu fordern, um zu sehen,
wie weit Lehre und Glauben überhaupt zulässig seien, nach den sittlichen
Momenten, welche allein die festen Grundlagen des Staatslebens, wie jedes
Lebens, sind und bleiben. Denn Lehre und Glauben sind ihrer Natur nach
mehr subjectiv, während das sittliche Element sich durch die Erfahrung als
Wahrheit erweist. Das hindert nicht, anzuerkennen, daß der letzte Grund auch
des Sittlichen der religiöse Glaube ist (gegen die Verirrung, daß es Moral
gebe ohne religiösen Glauben, und daß man nur die Moral brauche, ohne
den religiösen Glauben). Aber der Glaube kann bewußt oder unbewußt zu
Zwecken der Selbstsucht gestaltet und gemißbraucht werden (Heuchelei und
Fanatismus), und hat darum wieder seinen Maßstab an den sittlichen Fol¬
gerungen, Folgen und dem sittlichen Handeln, nach dem Worte Christi: "an
ihren Werken sollt ihr sie erkennen."

So gewiß darum der Theorie nach die Kirche höher steht als der Staat,
insofern sie Grund und Zweck alles Lebens lehrt, und damit auch die letzten
idealen Gründe für alle Ordnungen des Lebens, so gewiß muß faktisch und
praktisch der Staat, sobald er selbst die aus dem wahren Christenglauben ab¬
fließenden sittlichen Ideen als maßgebend anerkennt, über der Kirche stehen, d. h.
wenn wirklich die Gesetze und Ordnungen beider Institute sich widersprechen, was
immer nur durch Schuld des einen Theils der Fall sein wird, und -- inner¬
halb der christlichen Gemeinschaft, nachdem die heidnische Lebensanschauung
überwunden war -- geschichtlich nur durch die Verweltltchung der Kirche
durch die Hierarchie eingetreten ist, -- so müssen die angeblichen Rechte und
Gesetze der Kirche denen des Staates weichen. Denn die Vertreter der Kirche
sind nicht allein so gut sündige Menschen, wie alle anderen auch, sondern
gerade solche, welche als "Heilige Väter" ein göttliches Recht für sich in
Anspruch genommen haben, sind nach unwidersprechlichem Ausweis der Ge¬
schichte nichts weniger als "heilig", vielmehr die größten Scheusale gewesen.

Darum soll zwar die Kirche das Rechte lehren, aber die Gestaltung,
Ausführung und Ueberwachung der Ordnungen des Lebens muß der Staat
haben, damit nicht das Heilige von der menschlichen Selbstsucht zu ihrer Be¬
friedigung unter dem Deckmantel der Kirche gemißbraucht werde.

Wir wollen also damit auch den Regierungen den öffentlichen Vorwurf


Punkt der Regierungen der ist, daß der Staat durch seine Gesetze die Grenzen
bestimmt, innerhalb deren sich jede Religionsgesellschaft zu bewegen hat, damit
jede ihr Recht erhalte. Denn factisch hat sich — nach Menschenweise — die
Christengemeinde nicht nur in mehrere große Kirchen gespalten, sondern es stehen
noch viele andere größere und kleinere Religionsgemeinschaften neben den Haupt¬
kirchen, der Staat hat aber die Rechte aller zu schützen. Da:um hat auch der
Staat nach seinem unveräußerlichen Rechte der Selbsterhaltung das Recht,
einen Ausweis über die Lehre oder den Glauben zu fordern, um zu sehen,
wie weit Lehre und Glauben überhaupt zulässig seien, nach den sittlichen
Momenten, welche allein die festen Grundlagen des Staatslebens, wie jedes
Lebens, sind und bleiben. Denn Lehre und Glauben sind ihrer Natur nach
mehr subjectiv, während das sittliche Element sich durch die Erfahrung als
Wahrheit erweist. Das hindert nicht, anzuerkennen, daß der letzte Grund auch
des Sittlichen der religiöse Glaube ist (gegen die Verirrung, daß es Moral
gebe ohne religiösen Glauben, und daß man nur die Moral brauche, ohne
den religiösen Glauben). Aber der Glaube kann bewußt oder unbewußt zu
Zwecken der Selbstsucht gestaltet und gemißbraucht werden (Heuchelei und
Fanatismus), und hat darum wieder seinen Maßstab an den sittlichen Fol¬
gerungen, Folgen und dem sittlichen Handeln, nach dem Worte Christi: „an
ihren Werken sollt ihr sie erkennen."

So gewiß darum der Theorie nach die Kirche höher steht als der Staat,
insofern sie Grund und Zweck alles Lebens lehrt, und damit auch die letzten
idealen Gründe für alle Ordnungen des Lebens, so gewiß muß faktisch und
praktisch der Staat, sobald er selbst die aus dem wahren Christenglauben ab¬
fließenden sittlichen Ideen als maßgebend anerkennt, über der Kirche stehen, d. h.
wenn wirklich die Gesetze und Ordnungen beider Institute sich widersprechen, was
immer nur durch Schuld des einen Theils der Fall sein wird, und — inner¬
halb der christlichen Gemeinschaft, nachdem die heidnische Lebensanschauung
überwunden war — geschichtlich nur durch die Verweltltchung der Kirche
durch die Hierarchie eingetreten ist, — so müssen die angeblichen Rechte und
Gesetze der Kirche denen des Staates weichen. Denn die Vertreter der Kirche
sind nicht allein so gut sündige Menschen, wie alle anderen auch, sondern
gerade solche, welche als „Heilige Väter" ein göttliches Recht für sich in
Anspruch genommen haben, sind nach unwidersprechlichem Ausweis der Ge¬
schichte nichts weniger als „heilig", vielmehr die größten Scheusale gewesen.

Darum soll zwar die Kirche das Rechte lehren, aber die Gestaltung,
Ausführung und Ueberwachung der Ordnungen des Lebens muß der Staat
haben, damit nicht das Heilige von der menschlichen Selbstsucht zu ihrer Be¬
friedigung unter dem Deckmantel der Kirche gemißbraucht werde.

Wir wollen also damit auch den Regierungen den öffentlichen Vorwurf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134806"/>
          <p xml:id="ID_1421" prev="#ID_1420"> Punkt der Regierungen der ist, daß der Staat durch seine Gesetze die Grenzen<lb/>
bestimmt, innerhalb deren sich jede Religionsgesellschaft zu bewegen hat, damit<lb/>
jede ihr Recht erhalte. Denn factisch hat sich &#x2014; nach Menschenweise &#x2014; die<lb/>
Christengemeinde nicht nur in mehrere große Kirchen gespalten, sondern es stehen<lb/>
noch viele andere größere und kleinere Religionsgemeinschaften neben den Haupt¬<lb/>
kirchen, der Staat hat aber die Rechte aller zu schützen. Da:um hat auch der<lb/>
Staat nach seinem unveräußerlichen Rechte der Selbsterhaltung das Recht,<lb/>
einen Ausweis über die Lehre oder den Glauben zu fordern, um zu sehen,<lb/>
wie weit Lehre und Glauben überhaupt zulässig seien, nach den sittlichen<lb/>
Momenten, welche allein die festen Grundlagen des Staatslebens, wie jedes<lb/>
Lebens, sind und bleiben. Denn Lehre und Glauben sind ihrer Natur nach<lb/>
mehr subjectiv, während das sittliche Element sich durch die Erfahrung als<lb/>
Wahrheit erweist. Das hindert nicht, anzuerkennen, daß der letzte Grund auch<lb/>
des Sittlichen der religiöse Glaube ist (gegen die Verirrung, daß es Moral<lb/>
gebe ohne religiösen Glauben, und daß man nur die Moral brauche, ohne<lb/>
den religiösen Glauben). Aber der Glaube kann bewußt oder unbewußt zu<lb/>
Zwecken der Selbstsucht gestaltet und gemißbraucht werden (Heuchelei und<lb/>
Fanatismus), und hat darum wieder seinen Maßstab an den sittlichen Fol¬<lb/>
gerungen, Folgen und dem sittlichen Handeln, nach dem Worte Christi: &#x201E;an<lb/>
ihren Werken sollt ihr sie erkennen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1422"> So gewiß darum der Theorie nach die Kirche höher steht als der Staat,<lb/>
insofern sie Grund und Zweck alles Lebens lehrt, und damit auch die letzten<lb/>
idealen Gründe für alle Ordnungen des Lebens, so gewiß muß faktisch und<lb/>
praktisch der Staat, sobald er selbst die aus dem wahren Christenglauben ab¬<lb/>
fließenden sittlichen Ideen als maßgebend anerkennt, über der Kirche stehen, d. h.<lb/>
wenn wirklich die Gesetze und Ordnungen beider Institute sich widersprechen, was<lb/>
immer nur durch Schuld des einen Theils der Fall sein wird, und &#x2014; inner¬<lb/>
halb der christlichen Gemeinschaft, nachdem die heidnische Lebensanschauung<lb/>
überwunden war &#x2014; geschichtlich nur durch die Verweltltchung der Kirche<lb/>
durch die Hierarchie eingetreten ist, &#x2014; so müssen die angeblichen Rechte und<lb/>
Gesetze der Kirche denen des Staates weichen. Denn die Vertreter der Kirche<lb/>
sind nicht allein so gut sündige Menschen, wie alle anderen auch, sondern<lb/>
gerade solche, welche als &#x201E;Heilige Väter" ein göttliches Recht für sich in<lb/>
Anspruch genommen haben, sind nach unwidersprechlichem Ausweis der Ge¬<lb/>
schichte nichts weniger als &#x201E;heilig", vielmehr die größten Scheusale gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1423"> Darum soll zwar die Kirche das Rechte lehren, aber die Gestaltung,<lb/>
Ausführung und Ueberwachung der Ordnungen des Lebens muß der Staat<lb/>
haben, damit nicht das Heilige von der menschlichen Selbstsucht zu ihrer Be¬<lb/>
friedigung unter dem Deckmantel der Kirche gemißbraucht werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1424" next="#ID_1425"> Wir wollen also damit auch den Regierungen den öffentlichen Vorwurf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] Punkt der Regierungen der ist, daß der Staat durch seine Gesetze die Grenzen bestimmt, innerhalb deren sich jede Religionsgesellschaft zu bewegen hat, damit jede ihr Recht erhalte. Denn factisch hat sich — nach Menschenweise — die Christengemeinde nicht nur in mehrere große Kirchen gespalten, sondern es stehen noch viele andere größere und kleinere Religionsgemeinschaften neben den Haupt¬ kirchen, der Staat hat aber die Rechte aller zu schützen. Da:um hat auch der Staat nach seinem unveräußerlichen Rechte der Selbsterhaltung das Recht, einen Ausweis über die Lehre oder den Glauben zu fordern, um zu sehen, wie weit Lehre und Glauben überhaupt zulässig seien, nach den sittlichen Momenten, welche allein die festen Grundlagen des Staatslebens, wie jedes Lebens, sind und bleiben. Denn Lehre und Glauben sind ihrer Natur nach mehr subjectiv, während das sittliche Element sich durch die Erfahrung als Wahrheit erweist. Das hindert nicht, anzuerkennen, daß der letzte Grund auch des Sittlichen der religiöse Glaube ist (gegen die Verirrung, daß es Moral gebe ohne religiösen Glauben, und daß man nur die Moral brauche, ohne den religiösen Glauben). Aber der Glaube kann bewußt oder unbewußt zu Zwecken der Selbstsucht gestaltet und gemißbraucht werden (Heuchelei und Fanatismus), und hat darum wieder seinen Maßstab an den sittlichen Fol¬ gerungen, Folgen und dem sittlichen Handeln, nach dem Worte Christi: „an ihren Werken sollt ihr sie erkennen." So gewiß darum der Theorie nach die Kirche höher steht als der Staat, insofern sie Grund und Zweck alles Lebens lehrt, und damit auch die letzten idealen Gründe für alle Ordnungen des Lebens, so gewiß muß faktisch und praktisch der Staat, sobald er selbst die aus dem wahren Christenglauben ab¬ fließenden sittlichen Ideen als maßgebend anerkennt, über der Kirche stehen, d. h. wenn wirklich die Gesetze und Ordnungen beider Institute sich widersprechen, was immer nur durch Schuld des einen Theils der Fall sein wird, und — inner¬ halb der christlichen Gemeinschaft, nachdem die heidnische Lebensanschauung überwunden war — geschichtlich nur durch die Verweltltchung der Kirche durch die Hierarchie eingetreten ist, — so müssen die angeblichen Rechte und Gesetze der Kirche denen des Staates weichen. Denn die Vertreter der Kirche sind nicht allein so gut sündige Menschen, wie alle anderen auch, sondern gerade solche, welche als „Heilige Väter" ein göttliches Recht für sich in Anspruch genommen haben, sind nach unwidersprechlichem Ausweis der Ge¬ schichte nichts weniger als „heilig", vielmehr die größten Scheusale gewesen. Darum soll zwar die Kirche das Rechte lehren, aber die Gestaltung, Ausführung und Ueberwachung der Ordnungen des Lebens muß der Staat haben, damit nicht das Heilige von der menschlichen Selbstsucht zu ihrer Be¬ friedigung unter dem Deckmantel der Kirche gemißbraucht werde. Wir wollen also damit auch den Regierungen den öffentlichen Vorwurf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/460>, abgerufen am 22.07.2024.