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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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sammt ihren Wählern. - Die geheime Wahl ist ein Humbug. Die Sozial¬
demokraten wissen ganz genau, wie jeder der Ihrigen stimmt, und jede dis-
ciplinirte Partei kann dies wissen. Nur die Nation als solche wird durch die
angebliche geheime Wahl um die wichtigsten Thatsachen zu ihrer Selbsterkennt¬
niß gebracht. Das muß aufhören, und die Diäten, obwohl an sich eine
fehlerhafte Einrichtung, sind für diesen wahren Fortschritt kein zu hoher
Preis.

Am 2. Dezember wurde über eine Jnterpellation des Abgeordneten
Wiggers berathen, welche die Herstellung von Wasserstraßen durch das Reich
betraf. Es wurde viel Gutes und Durchschlagendes zu Gunsten dieser Her¬
stellung gesagt, während der Präsident Delbrück ausweichend und ziemlich
ablehnend antwortete. Die Reden der Befürworter zeigten nur eine sehr auf¬
fallende Inconsequenz. Es ist ist gut und naturgemäß, der Zustand Deutsch¬
lands verlangt sogar gebieterisch, daß dem Reich immer zahlreichere und
kostspieligere, lange versäumte Aufgaben zugewiesen werden. Da hätten nun
die Herrn Befürworter sagen sollen: Weil wir die Leistungen des Reiches
steigern wollen, so erkennen wir als dringendste Pflicht, dem Reich zu einem
ausgiebigen und selbständigen Einnahmesystem zu verhelfen. Darüber schwie¬
gen die Herren, und damit haben sie sich selbst geschlagen. Denn von der
Luft baut man keine Kanäle, sowenig wie andere Dinge.

In derselben Sitzung vom 2. Dez. wurde in zweiter Lesung ein Gesetz
über die Leistungen der Eisenbahnen sür die Post berathen. Der angelegte
Gesetzentwurf enthielt, wie der Generalpostmeister bei der ersten Berathung be¬
merkte, nichts als eine Codification der herkömmlichen Bestimmungen. Gleich¬
wohl hatte die Kommission, welche den Gesetzentwurf vorberathen, in höchst
schädlicher Weise die Leistungen der Eisenbahnen beschränkt. Zum Glück hat
der Reichstag diese Beschränkungen, wenn auch nur größtentheils und wenn
auch mit einer bemerkenswerth kleinen Majorität abgelehnt. Es giebt einen
Weg parlamentarischer Politik, durch dessen Verfolgung die Parlamente zur
nationalen Calamität werden können. Dieser Weg besteht darin, Alles zu
fordern und Nichts zu leisten, alle Interessen zu vertheidigen und alle Pflich¬
ten zu schmälern. Man kann an die Post nicht Anforderungen genug stellen,
aber gleichzeitig verlangt man, daß sie womöglich den Eisenbahnen jede Be¬
nutzung vergüte. Wir hoffen, daß die öffentliche Meinung in Deutschland
den uonsims und die Verderblichkeit dieser Methode in Zeiten und deutlicher
als in andern Ländern begreift. Wir hoffen, daß Vernunft und Gewissen in
Deutschland sich stark genug erweisen, eine Fälschung der öffentlichen Meinung
Zu verhüten, in Folge deren dieselbe zuläßt, daß die Neichsboten Anwälte strei-
tender Privatinteressen werden, und dann aufhören. Anwälte der Dauer
und Kraft des Gemeinwesens zu werden.
Gr


enzboten to. 1875. 55

sammt ihren Wählern. - Die geheime Wahl ist ein Humbug. Die Sozial¬
demokraten wissen ganz genau, wie jeder der Ihrigen stimmt, und jede dis-
ciplinirte Partei kann dies wissen. Nur die Nation als solche wird durch die
angebliche geheime Wahl um die wichtigsten Thatsachen zu ihrer Selbsterkennt¬
niß gebracht. Das muß aufhören, und die Diäten, obwohl an sich eine
fehlerhafte Einrichtung, sind für diesen wahren Fortschritt kein zu hoher
Preis.

Am 2. Dezember wurde über eine Jnterpellation des Abgeordneten
Wiggers berathen, welche die Herstellung von Wasserstraßen durch das Reich
betraf. Es wurde viel Gutes und Durchschlagendes zu Gunsten dieser Her¬
stellung gesagt, während der Präsident Delbrück ausweichend und ziemlich
ablehnend antwortete. Die Reden der Befürworter zeigten nur eine sehr auf¬
fallende Inconsequenz. Es ist ist gut und naturgemäß, der Zustand Deutsch¬
lands verlangt sogar gebieterisch, daß dem Reich immer zahlreichere und
kostspieligere, lange versäumte Aufgaben zugewiesen werden. Da hätten nun
die Herrn Befürworter sagen sollen: Weil wir die Leistungen des Reiches
steigern wollen, so erkennen wir als dringendste Pflicht, dem Reich zu einem
ausgiebigen und selbständigen Einnahmesystem zu verhelfen. Darüber schwie¬
gen die Herren, und damit haben sie sich selbst geschlagen. Denn von der
Luft baut man keine Kanäle, sowenig wie andere Dinge.

In derselben Sitzung vom 2. Dez. wurde in zweiter Lesung ein Gesetz
über die Leistungen der Eisenbahnen sür die Post berathen. Der angelegte
Gesetzentwurf enthielt, wie der Generalpostmeister bei der ersten Berathung be¬
merkte, nichts als eine Codification der herkömmlichen Bestimmungen. Gleich¬
wohl hatte die Kommission, welche den Gesetzentwurf vorberathen, in höchst
schädlicher Weise die Leistungen der Eisenbahnen beschränkt. Zum Glück hat
der Reichstag diese Beschränkungen, wenn auch nur größtentheils und wenn
auch mit einer bemerkenswerth kleinen Majorität abgelehnt. Es giebt einen
Weg parlamentarischer Politik, durch dessen Verfolgung die Parlamente zur
nationalen Calamität werden können. Dieser Weg besteht darin, Alles zu
fordern und Nichts zu leisten, alle Interessen zu vertheidigen und alle Pflich¬
ten zu schmälern. Man kann an die Post nicht Anforderungen genug stellen,
aber gleichzeitig verlangt man, daß sie womöglich den Eisenbahnen jede Be¬
nutzung vergüte. Wir hoffen, daß die öffentliche Meinung in Deutschland
den uonsims und die Verderblichkeit dieser Methode in Zeiten und deutlicher
als in andern Ländern begreift. Wir hoffen, daß Vernunft und Gewissen in
Deutschland sich stark genug erweisen, eine Fälschung der öffentlichen Meinung
Zu verhüten, in Folge deren dieselbe zuläßt, daß die Neichsboten Anwälte strei-
tender Privatinteressen werden, und dann aufhören. Anwälte der Dauer
und Kraft des Gemeinwesens zu werden.
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[0437] sammt ihren Wählern. - Die geheime Wahl ist ein Humbug. Die Sozial¬ demokraten wissen ganz genau, wie jeder der Ihrigen stimmt, und jede dis- ciplinirte Partei kann dies wissen. Nur die Nation als solche wird durch die angebliche geheime Wahl um die wichtigsten Thatsachen zu ihrer Selbsterkennt¬ niß gebracht. Das muß aufhören, und die Diäten, obwohl an sich eine fehlerhafte Einrichtung, sind für diesen wahren Fortschritt kein zu hoher Preis. Am 2. Dezember wurde über eine Jnterpellation des Abgeordneten Wiggers berathen, welche die Herstellung von Wasserstraßen durch das Reich betraf. Es wurde viel Gutes und Durchschlagendes zu Gunsten dieser Her¬ stellung gesagt, während der Präsident Delbrück ausweichend und ziemlich ablehnend antwortete. Die Reden der Befürworter zeigten nur eine sehr auf¬ fallende Inconsequenz. Es ist ist gut und naturgemäß, der Zustand Deutsch¬ lands verlangt sogar gebieterisch, daß dem Reich immer zahlreichere und kostspieligere, lange versäumte Aufgaben zugewiesen werden. Da hätten nun die Herrn Befürworter sagen sollen: Weil wir die Leistungen des Reiches steigern wollen, so erkennen wir als dringendste Pflicht, dem Reich zu einem ausgiebigen und selbständigen Einnahmesystem zu verhelfen. Darüber schwie¬ gen die Herren, und damit haben sie sich selbst geschlagen. Denn von der Luft baut man keine Kanäle, sowenig wie andere Dinge. In derselben Sitzung vom 2. Dez. wurde in zweiter Lesung ein Gesetz über die Leistungen der Eisenbahnen sür die Post berathen. Der angelegte Gesetzentwurf enthielt, wie der Generalpostmeister bei der ersten Berathung be¬ merkte, nichts als eine Codification der herkömmlichen Bestimmungen. Gleich¬ wohl hatte die Kommission, welche den Gesetzentwurf vorberathen, in höchst schädlicher Weise die Leistungen der Eisenbahnen beschränkt. Zum Glück hat der Reichstag diese Beschränkungen, wenn auch nur größtentheils und wenn auch mit einer bemerkenswerth kleinen Majorität abgelehnt. Es giebt einen Weg parlamentarischer Politik, durch dessen Verfolgung die Parlamente zur nationalen Calamität werden können. Dieser Weg besteht darin, Alles zu fordern und Nichts zu leisten, alle Interessen zu vertheidigen und alle Pflich¬ ten zu schmälern. Man kann an die Post nicht Anforderungen genug stellen, aber gleichzeitig verlangt man, daß sie womöglich den Eisenbahnen jede Be¬ nutzung vergüte. Wir hoffen, daß die öffentliche Meinung in Deutschland den uonsims und die Verderblichkeit dieser Methode in Zeiten und deutlicher als in andern Ländern begreift. Wir hoffen, daß Vernunft und Gewissen in Deutschland sich stark genug erweisen, eine Fälschung der öffentlichen Meinung Zu verhüten, in Folge deren dieselbe zuläßt, daß die Neichsboten Anwälte strei- tender Privatinteressen werden, und dann aufhören. Anwälte der Dauer und Kraft des Gemeinwesens zu werden. Gr enzboten to. 1875. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/437>, abgerufen am 26.06.2024.