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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Allzeit will die Welt belogen und betrogen sein, was ganz naturgemäß und
logisch, sintemal sie selber eine große Lüge und ein plumper Betrug ist."

Scherr möge sich nur einen Augenblick daran erinnern, wie das Gesetz
der Gravitation, das im ganzen Universum herrscht, ein vernunftnothwendiges
ist. wie das organische Leben im gesetzlich harmonischen Ineinandergreifen der
unorganischen Kräfte sich aufbaut, wie das All in den für sich selbstbestehenden
Wesen empfunden und gewußt wird, um wenigstens darüber zu erröthen, daß
er die Natur für Lug und Trug ausgiebt. Aber wir sind selbst Naturwesen,
um das Gute zu verwirklichen, um durch eigne Willensthat ein Reich der
Freiheit aufzubauen, die sittliche Arbeit, die Selbstvervollkommnung ist unsre
Bestimmung, sie unsre Glückseligkeit. Das ist Wahrheit, nicht Lug und Trug,
das erkennt Scherr anderwärts selbst, wenn er den Vervollkommnungsdrang
und Glückseligkeitstrieb unsre großen, wahrhaft heiligen Nothhelfer nennt, die
uns die Gegenwart tüchtig fassen und führen lehren, wenn er mahnt unsre
Stelle auszufüllen, unsre Pflicht zu thun, Selbstbescheidung und Erbarmen
zu üben, wenn er selber so schön sagt: "Wie der biblischen Dichtung zufolge
die Feuerwolke den Kindern Israel vorwandelte, nächtlicher Weile den Weg
der Wüste ihnen zu weisen, so leuchteten und leuchten die Ideale der Mensch¬
heit voran beim Vorschritt aus der Nacht der Barbarei in die leise an¬
brechende Morgendämmerung der Humanität." Er selber läßt einen Funken
vom Centralfeuer in den Erdenkloß fallen, den Idealismus Licht in die
Masse bringen, und citirt Goethe's Verse nach dem Spruch des griechischen
Weisen:


Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Wär' in uns nickt des Gottes Kraft
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?

Er selbst erkennt eine sittliche Weltordnung, eine Vernunft in der Ge¬
schichte an, gerade indem er behauptet, die Weltgeschichte arbeite nicht mit
Moral, sondern mit Nothwendigkeiten und Interessen: denn er setzt hinzu:
"Diese werden durch die menschlichen Leidenschaften, die guten wie die bösen,
flüssig und für die große, das Dasein der Menschheit beseelende Entwicklungs¬
idee verwandt." Und doch alles Seifenblase und Lug und Trug: Phidias
und Shakespeare, Jesus und Muhammed. Newton und Kant, Goethe, Schiller
und das Gottesurtheil am Tag von Sedan? Hungern und dürsten wir
wirklich nach Idealen und sind sie uns nothwendig wie Speise und Trank,
dann sind sie so wenig Illusionen wie Brot und Wein. Was wissen wir
denn unmittelbar und was ist uns unzweifelhaft gewiß? Unser Selbst, unsre
Empfindungen und Gedanken. Aus unsern Empfindungen (des Lichts, des


Allzeit will die Welt belogen und betrogen sein, was ganz naturgemäß und
logisch, sintemal sie selber eine große Lüge und ein plumper Betrug ist."

Scherr möge sich nur einen Augenblick daran erinnern, wie das Gesetz
der Gravitation, das im ganzen Universum herrscht, ein vernunftnothwendiges
ist. wie das organische Leben im gesetzlich harmonischen Ineinandergreifen der
unorganischen Kräfte sich aufbaut, wie das All in den für sich selbstbestehenden
Wesen empfunden und gewußt wird, um wenigstens darüber zu erröthen, daß
er die Natur für Lug und Trug ausgiebt. Aber wir sind selbst Naturwesen,
um das Gute zu verwirklichen, um durch eigne Willensthat ein Reich der
Freiheit aufzubauen, die sittliche Arbeit, die Selbstvervollkommnung ist unsre
Bestimmung, sie unsre Glückseligkeit. Das ist Wahrheit, nicht Lug und Trug,
das erkennt Scherr anderwärts selbst, wenn er den Vervollkommnungsdrang
und Glückseligkeitstrieb unsre großen, wahrhaft heiligen Nothhelfer nennt, die
uns die Gegenwart tüchtig fassen und führen lehren, wenn er mahnt unsre
Stelle auszufüllen, unsre Pflicht zu thun, Selbstbescheidung und Erbarmen
zu üben, wenn er selber so schön sagt: „Wie der biblischen Dichtung zufolge
die Feuerwolke den Kindern Israel vorwandelte, nächtlicher Weile den Weg
der Wüste ihnen zu weisen, so leuchteten und leuchten die Ideale der Mensch¬
heit voran beim Vorschritt aus der Nacht der Barbarei in die leise an¬
brechende Morgendämmerung der Humanität." Er selber läßt einen Funken
vom Centralfeuer in den Erdenkloß fallen, den Idealismus Licht in die
Masse bringen, und citirt Goethe's Verse nach dem Spruch des griechischen
Weisen:


Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Wär' in uns nickt des Gottes Kraft
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?

Er selbst erkennt eine sittliche Weltordnung, eine Vernunft in der Ge¬
schichte an, gerade indem er behauptet, die Weltgeschichte arbeite nicht mit
Moral, sondern mit Nothwendigkeiten und Interessen: denn er setzt hinzu:
„Diese werden durch die menschlichen Leidenschaften, die guten wie die bösen,
flüssig und für die große, das Dasein der Menschheit beseelende Entwicklungs¬
idee verwandt." Und doch alles Seifenblase und Lug und Trug: Phidias
und Shakespeare, Jesus und Muhammed. Newton und Kant, Goethe, Schiller
und das Gottesurtheil am Tag von Sedan? Hungern und dürsten wir
wirklich nach Idealen und sind sie uns nothwendig wie Speise und Trank,
dann sind sie so wenig Illusionen wie Brot und Wein. Was wissen wir
denn unmittelbar und was ist uns unzweifelhaft gewiß? Unser Selbst, unsre
Empfindungen und Gedanken. Aus unsern Empfindungen (des Lichts, des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/331>, abgerufen am 25.08.2024.