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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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fung auf immaterielle Prinzipien als unwissenschaftlich verwirft, so bedarf es
nur eines kleinen Fortschrittes, und er wird auch den Dualismus zwischen
Thier und Mensch fallen lassen. Und das ist in der That geschehen. Schon
1771 ist er damit einverstanden, daß die ursprüngliche Gangart des Menschen
die vierfüßige gewesen sei, daß die zweifüßige sich erst allmählich entwickelt
habe, und daß der Mensch erst mit der Zeit "sein Haupt über seine alten
Kameraden (die Thiere) so stolz erhoben hat." 1777 aber macht er bereits
die Bemerkung (Werke II. S. 427): daß "wir thierische Geschöpfe nur durch
Ausbildung zu Menschen gemacht werden." Bon besonderem Interesse sind
die Sätze, die der Verfasser für seinen Zweck der "Pragmatischen Anthropo¬
logie" entnimmt. Es ergeben sich daraus ungefähr folgende Gedanken: 1. Die
Menschheit darf, wenn wir die ihr charakteristischen Merkmale gewinnen wol¬
len , nicht mit nichrirdischen Wesen verglichen werden, da solche unbekannt sind.
2. Der Mensch schafft sich seinen Charakter selbst und vervollkommnet sich
nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken. 5. Der Mensch ist ein mit
Vernunftfähigkeit begabtes Thier, er kann aus sich ein vernünftiges Thier ma¬
chen. 4. Die "Zwietracht" ist in dem Plane der Natur das Mittel,
die Vervollkommnung des Menschen durch fortschreitende Cultur, wenngleich
mit Aufopferung mancher Lebensfreuden desselben, zu bewirken. Der innere
und äußere Krieg, "ein Maschinenwesen der Vorsehung" (unter Vorsehung
ist kein höheres Prinzip zu verstehen, als das. welches wir für die Erhaltung
der Gewächse und Thiere annehmen) ist die Triebfeder, aus dem rohen Natur¬
zustande in den bürgerlichen überzugehen. (Kampf ums Dasein!) S. Der
Mensch ist ein Thier, welches sich allmählich zu seiner jetzigen Vollendung
entwickelt hat. Ein erstes völlig ausgebildetes, mit fertigen Instincten ver¬
sehenes Menschenpaar anzunehmen, ist unstatthaft. 6. Sollte nicht eine große
Naturrevolution eintreten können, wo "ein Orangoutang oder ein Chimpanse
die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen
dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein
Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche
Cultur sich allmählich entwickelte?" Wir müssen hier abbrechen und es dem Leser
überlassen, dem Verfasser bei seinen ferneren Untersuchungen der Kant'schen
Schriften, namentlich der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Ur¬
theilskraft, zu folgen, die ihm ebenfalls reichliche Ausbeute liefern.




fung auf immaterielle Prinzipien als unwissenschaftlich verwirft, so bedarf es
nur eines kleinen Fortschrittes, und er wird auch den Dualismus zwischen
Thier und Mensch fallen lassen. Und das ist in der That geschehen. Schon
1771 ist er damit einverstanden, daß die ursprüngliche Gangart des Menschen
die vierfüßige gewesen sei, daß die zweifüßige sich erst allmählich entwickelt
habe, und daß der Mensch erst mit der Zeit „sein Haupt über seine alten
Kameraden (die Thiere) so stolz erhoben hat." 1777 aber macht er bereits
die Bemerkung (Werke II. S. 427): daß „wir thierische Geschöpfe nur durch
Ausbildung zu Menschen gemacht werden." Bon besonderem Interesse sind
die Sätze, die der Verfasser für seinen Zweck der „Pragmatischen Anthropo¬
logie" entnimmt. Es ergeben sich daraus ungefähr folgende Gedanken: 1. Die
Menschheit darf, wenn wir die ihr charakteristischen Merkmale gewinnen wol¬
len , nicht mit nichrirdischen Wesen verglichen werden, da solche unbekannt sind.
2. Der Mensch schafft sich seinen Charakter selbst und vervollkommnet sich
nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken. 5. Der Mensch ist ein mit
Vernunftfähigkeit begabtes Thier, er kann aus sich ein vernünftiges Thier ma¬
chen. 4. Die „Zwietracht" ist in dem Plane der Natur das Mittel,
die Vervollkommnung des Menschen durch fortschreitende Cultur, wenngleich
mit Aufopferung mancher Lebensfreuden desselben, zu bewirken. Der innere
und äußere Krieg, „ein Maschinenwesen der Vorsehung" (unter Vorsehung
ist kein höheres Prinzip zu verstehen, als das. welches wir für die Erhaltung
der Gewächse und Thiere annehmen) ist die Triebfeder, aus dem rohen Natur¬
zustande in den bürgerlichen überzugehen. (Kampf ums Dasein!) S. Der
Mensch ist ein Thier, welches sich allmählich zu seiner jetzigen Vollendung
entwickelt hat. Ein erstes völlig ausgebildetes, mit fertigen Instincten ver¬
sehenes Menschenpaar anzunehmen, ist unstatthaft. 6. Sollte nicht eine große
Naturrevolution eintreten können, wo „ein Orangoutang oder ein Chimpanse
die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen
dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein
Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche
Cultur sich allmählich entwickelte?" Wir müssen hier abbrechen und es dem Leser
überlassen, dem Verfasser bei seinen ferneren Untersuchungen der Kant'schen
Schriften, namentlich der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Ur¬
theilskraft, zu folgen, die ihm ebenfalls reichliche Ausbeute liefern.




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[0281] fung auf immaterielle Prinzipien als unwissenschaftlich verwirft, so bedarf es nur eines kleinen Fortschrittes, und er wird auch den Dualismus zwischen Thier und Mensch fallen lassen. Und das ist in der That geschehen. Schon 1771 ist er damit einverstanden, daß die ursprüngliche Gangart des Menschen die vierfüßige gewesen sei, daß die zweifüßige sich erst allmählich entwickelt habe, und daß der Mensch erst mit der Zeit „sein Haupt über seine alten Kameraden (die Thiere) so stolz erhoben hat." 1777 aber macht er bereits die Bemerkung (Werke II. S. 427): daß „wir thierische Geschöpfe nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden." Bon besonderem Interesse sind die Sätze, die der Verfasser für seinen Zweck der „Pragmatischen Anthropo¬ logie" entnimmt. Es ergeben sich daraus ungefähr folgende Gedanken: 1. Die Menschheit darf, wenn wir die ihr charakteristischen Merkmale gewinnen wol¬ len , nicht mit nichrirdischen Wesen verglichen werden, da solche unbekannt sind. 2. Der Mensch schafft sich seinen Charakter selbst und vervollkommnet sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken. 5. Der Mensch ist ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier, er kann aus sich ein vernünftiges Thier ma¬ chen. 4. Die „Zwietracht" ist in dem Plane der Natur das Mittel, die Vervollkommnung des Menschen durch fortschreitende Cultur, wenngleich mit Aufopferung mancher Lebensfreuden desselben, zu bewirken. Der innere und äußere Krieg, „ein Maschinenwesen der Vorsehung" (unter Vorsehung ist kein höheres Prinzip zu verstehen, als das. welches wir für die Erhaltung der Gewächse und Thiere annehmen) ist die Triebfeder, aus dem rohen Natur¬ zustande in den bürgerlichen überzugehen. (Kampf ums Dasein!) S. Der Mensch ist ein Thier, welches sich allmählich zu seiner jetzigen Vollendung entwickelt hat. Ein erstes völlig ausgebildetes, mit fertigen Instincten ver¬ sehenes Menschenpaar anzunehmen, ist unstatthaft. 6. Sollte nicht eine große Naturrevolution eintreten können, wo „ein Orangoutang oder ein Chimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Cultur sich allmählich entwickelte?" Wir müssen hier abbrechen und es dem Leser überlassen, dem Verfasser bei seinen ferneren Untersuchungen der Kant'schen Schriften, namentlich der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Ur¬ theilskraft, zu folgen, die ihm ebenfalls reichliche Ausbeute liefern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/281>, abgerufen am 25.06.2024.