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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Ministerium, weil der Justizminister von Nationalliberalen zum Abgeordneten
gewählt worden, selbst nationalliberal, also ein Parteiministerium sei, daß,
anstatt der 79, wenigstens 90 patriotische Abgeordnete da sein müßten, daß
die gegenwärtige Regierung eine der Corruption sei, welche die öffentliche
Meinung und das Volk vergewaltige u. s. w. trat diesen Expektorationen,
welche eben wieder einmal zeigten, daß der Herausgeber der "gelben" (historisch¬
politischer) Blätter ein gewandter Publizist, aber nichts weniger denn ein
Parteiführer in großem Style ist, daß ihm jeder große Zug, jede große
staatsmännische Auffassung abgeht --, Minister von Lutz entgegen. Er hielt
eine Rede, wie mir sie selten von diesem redegewandten Mann vernommen,
offener heraustretend, wie früher, und derber wie je. Der "Ton" der Adresse
schmeckte ihm nach "Bauernvereinen"; den gegenwärtigen Zustand kennzeichnete
er als den acuten Zustand des Kampfes zwischen Staats- und Kirchengewalt,
über welchen die Adresse hinwegzuschlüpfen suche; rücksichtslos deckte er die
sogar auf sozialistische Hülfstruppen recurrirende Wahlagitation der bayrischen
Bischöfe auf und in glänzender Weise vertheidigte er endlich die deutsche
Politik der bayrischen Regierung. Der Boden für den Führer der Liberalen
war bereitet.

Keiner der bedeutenden Redner der letzteren hätte das sagen können, was
Stauffenberg sagte, oder mit Gleichem gleichen Eindruck machen können, als
er --. Daß der bisherige Präsident der Kammer, der von der rechten Seite
des Hauses auch stets als ein Bild ritterlicher Untadeligkeit gepriesene Freiherr
es war, der dieser Rechten seine Worte des glühendsten, aus der tiefsten, hiel-
t'chsten Erregung seiner patriotischen Seele gebornen Zorns entgegenschleuderte
und ihr versicherte, daß sie es gewesen, die seit lange den Unfrieden ins
Land gebracht und daß von heut an das "Tischtuch zwischen ihr und den
Liberalen zerschnitten sei", konnte seinen Eindruck auch auf jener Seite nicht
verfehlen. Ganz verblüfft aber saß die schwarze Schaar, als der Redner am
Schluß den von sämmtlichen Liberalen unterzeichneten Protest gegen die
Adresse und ihre Erklärung, an der fernern Debatte sich mit keinem Zuge
wehr betheiligen zu wollen, vorlas. Damit war das ultramontane Concept
total verrückt: keine Redner von der Linken mehr? Was sollten die von der
Rechten allein noch sagen? Zwei von ihr, die Herrn Molitor und Kopp
versuchten es an dem Tage noch, aber armselig genug. Das Hauptfiasko aber
war ihr für den zweiten Tag aufbehalten.

Hier ritt der streitbarste der streitbaren geistlichen Herrn, Herr Rußwurm,
das "unterdrückte katholische Volk" auch im Reichstag in jammert, zuerst
Mit eingelegter Lanze auf das Turnwfeld. Kirchen-Religionsoerfolgung all¬
überall, wohin er sieht, wohingegen der Clerus ganz harmlos daheimsitzt und
sich von jeder politischen Agitation fern hält; Entgegnungen gegen Lutz und


Grenzboten IV. I87S. 30

Ministerium, weil der Justizminister von Nationalliberalen zum Abgeordneten
gewählt worden, selbst nationalliberal, also ein Parteiministerium sei, daß,
anstatt der 79, wenigstens 90 patriotische Abgeordnete da sein müßten, daß
die gegenwärtige Regierung eine der Corruption sei, welche die öffentliche
Meinung und das Volk vergewaltige u. s. w. trat diesen Expektorationen,
welche eben wieder einmal zeigten, daß der Herausgeber der „gelben" (historisch¬
politischer) Blätter ein gewandter Publizist, aber nichts weniger denn ein
Parteiführer in großem Style ist, daß ihm jeder große Zug, jede große
staatsmännische Auffassung abgeht —, Minister von Lutz entgegen. Er hielt
eine Rede, wie mir sie selten von diesem redegewandten Mann vernommen,
offener heraustretend, wie früher, und derber wie je. Der „Ton" der Adresse
schmeckte ihm nach „Bauernvereinen"; den gegenwärtigen Zustand kennzeichnete
er als den acuten Zustand des Kampfes zwischen Staats- und Kirchengewalt,
über welchen die Adresse hinwegzuschlüpfen suche; rücksichtslos deckte er die
sogar auf sozialistische Hülfstruppen recurrirende Wahlagitation der bayrischen
Bischöfe auf und in glänzender Weise vertheidigte er endlich die deutsche
Politik der bayrischen Regierung. Der Boden für den Führer der Liberalen
war bereitet.

Keiner der bedeutenden Redner der letzteren hätte das sagen können, was
Stauffenberg sagte, oder mit Gleichem gleichen Eindruck machen können, als
er —. Daß der bisherige Präsident der Kammer, der von der rechten Seite
des Hauses auch stets als ein Bild ritterlicher Untadeligkeit gepriesene Freiherr
es war, der dieser Rechten seine Worte des glühendsten, aus der tiefsten, hiel-
t'chsten Erregung seiner patriotischen Seele gebornen Zorns entgegenschleuderte
und ihr versicherte, daß sie es gewesen, die seit lange den Unfrieden ins
Land gebracht und daß von heut an das „Tischtuch zwischen ihr und den
Liberalen zerschnitten sei", konnte seinen Eindruck auch auf jener Seite nicht
verfehlen. Ganz verblüfft aber saß die schwarze Schaar, als der Redner am
Schluß den von sämmtlichen Liberalen unterzeichneten Protest gegen die
Adresse und ihre Erklärung, an der fernern Debatte sich mit keinem Zuge
wehr betheiligen zu wollen, vorlas. Damit war das ultramontane Concept
total verrückt: keine Redner von der Linken mehr? Was sollten die von der
Rechten allein noch sagen? Zwei von ihr, die Herrn Molitor und Kopp
versuchten es an dem Tage noch, aber armselig genug. Das Hauptfiasko aber
war ihr für den zweiten Tag aufbehalten.

Hier ritt der streitbarste der streitbaren geistlichen Herrn, Herr Rußwurm,
das „unterdrückte katholische Volk" auch im Reichstag in jammert, zuerst
Mit eingelegter Lanze auf das Turnwfeld. Kirchen-Religionsoerfolgung all¬
überall, wohin er sieht, wohingegen der Clerus ganz harmlos daheimsitzt und
sich von jeder politischen Agitation fern hält; Entgegnungen gegen Lutz und


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[0237] Ministerium, weil der Justizminister von Nationalliberalen zum Abgeordneten gewählt worden, selbst nationalliberal, also ein Parteiministerium sei, daß, anstatt der 79, wenigstens 90 patriotische Abgeordnete da sein müßten, daß die gegenwärtige Regierung eine der Corruption sei, welche die öffentliche Meinung und das Volk vergewaltige u. s. w. trat diesen Expektorationen, welche eben wieder einmal zeigten, daß der Herausgeber der „gelben" (historisch¬ politischer) Blätter ein gewandter Publizist, aber nichts weniger denn ein Parteiführer in großem Style ist, daß ihm jeder große Zug, jede große staatsmännische Auffassung abgeht —, Minister von Lutz entgegen. Er hielt eine Rede, wie mir sie selten von diesem redegewandten Mann vernommen, offener heraustretend, wie früher, und derber wie je. Der „Ton" der Adresse schmeckte ihm nach „Bauernvereinen"; den gegenwärtigen Zustand kennzeichnete er als den acuten Zustand des Kampfes zwischen Staats- und Kirchengewalt, über welchen die Adresse hinwegzuschlüpfen suche; rücksichtslos deckte er die sogar auf sozialistische Hülfstruppen recurrirende Wahlagitation der bayrischen Bischöfe auf und in glänzender Weise vertheidigte er endlich die deutsche Politik der bayrischen Regierung. Der Boden für den Führer der Liberalen war bereitet. Keiner der bedeutenden Redner der letzteren hätte das sagen können, was Stauffenberg sagte, oder mit Gleichem gleichen Eindruck machen können, als er —. Daß der bisherige Präsident der Kammer, der von der rechten Seite des Hauses auch stets als ein Bild ritterlicher Untadeligkeit gepriesene Freiherr es war, der dieser Rechten seine Worte des glühendsten, aus der tiefsten, hiel- t'chsten Erregung seiner patriotischen Seele gebornen Zorns entgegenschleuderte und ihr versicherte, daß sie es gewesen, die seit lange den Unfrieden ins Land gebracht und daß von heut an das „Tischtuch zwischen ihr und den Liberalen zerschnitten sei", konnte seinen Eindruck auch auf jener Seite nicht verfehlen. Ganz verblüfft aber saß die schwarze Schaar, als der Redner am Schluß den von sämmtlichen Liberalen unterzeichneten Protest gegen die Adresse und ihre Erklärung, an der fernern Debatte sich mit keinem Zuge wehr betheiligen zu wollen, vorlas. Damit war das ultramontane Concept total verrückt: keine Redner von der Linken mehr? Was sollten die von der Rechten allein noch sagen? Zwei von ihr, die Herrn Molitor und Kopp versuchten es an dem Tage noch, aber armselig genug. Das Hauptfiasko aber war ihr für den zweiten Tag aufbehalten. Hier ritt der streitbarste der streitbaren geistlichen Herrn, Herr Rußwurm, das „unterdrückte katholische Volk" auch im Reichstag in jammert, zuerst Mit eingelegter Lanze auf das Turnwfeld. Kirchen-Religionsoerfolgung all¬ überall, wohin er sieht, wohingegen der Clerus ganz harmlos daheimsitzt und sich von jeder politischen Agitation fern hält; Entgegnungen gegen Lutz und Grenzboten IV. I87S. 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/237>, abgerufen am 25.08.2024.