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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Wahrheit. Den Beweis dafür liefert Amerika. Mann in Philadelphia legt
das Zeugniß ab"): "Die religiöse Erziehung der Masse in den Vereinigten
Staaten war und ist entsetzlich vernachlässigt. Denn die Staatsschulen neh¬
men aus Prinzip den Religionsunterricht nicht in sich auf, die Sonntags¬
schulen aber ersetzen die in den meisten protestantischen Gemeinschaften so
gänzlich vernachlässigte Katechese keineswegs. Viele aus Europa Eingewan¬
derte werden in diesem Sektengewirre völlig confus und schwimmen zwischen
den verschiednen Kirchenparteien herum, bis sie endlich in dieser oder jener --
wer weiß von welchen zufälligen Einflüssen beherrscht -- sich niederlassen."
Und Joseph Smith, der Gründer des Mormonismus bekennt? "Die Verwir¬
rung und der Kampf unter den verschiedenen religiösen Genossenschaften war
so groß, daß es für einen so jungen und mit der Welt so unbekannten Men¬
schen wie ich unmöglich war, zu irgend einem sicheren Schluß^ zu gelan¬
gen, wer Recht und wer Unrecht hatte. Mein Gemüth war mehrmals in
großer Aufregung, so gewaltig und so unablässig waren das Geschrei und
der Lärm."^)

Also Amerika wenigstens ist nicht geeignet zur Bildung von Freikirchen
einzuladen. Es zeigt uns allerdings ein lichtes Gemälde, wenn wir auf die
Intensität, welche die christliche Frömmigkeit in den Einzelnen erreicht, blicken,
ihre Opferfreudigst, ihre rege Kirchlichkeit; aber wir nehmen einen tiefen
Schatten wahr, wenn wir auf das Volk als Ganzes achten. Die Freikirche
gewinnt Einzelne für das Evangelium, verzichtet aber darauf, das Volk als
Ganzes zum Objekt der Mission zu machen. Auf die Wirkungen des frei¬
kirchlichen Systems in Schottland und Waadtland einzugehen, verzichten
wir. Die waadtländische Kirche ist sehr klein, und ihr Einfluß auf das Volk
gering. Die schottische Freikirche und die schottische Nationalkirche haben sich
Mit der Zeit sehr genähert, und ihre Wiedereinigung liegt nicht außerhalb der
Wahrscheinlichkeit. Der so ernste kirchlich strenge Nationalcharakter der Schotten
Macht es schwer zu bestimmen, ob die Staatskirche oder die Freikirche segens¬
reicher wirkt. Das christliche Leben ist hier wie dort ein gleich starkes. Auch
besteht die Freikirche eine verhältnißmäßig so kurze Zeit, daß wir gut thun,
unser Urtheil über ihre Erfolge zu suspendiren. Wir sind also nur auf
Amerika gewiesen, und die dortigen Zustände sind, wie wir gesehen haben,
keineswegs vorbildlich.

Was könnte uns also bestimmen, auch für uns die Bildung von Frei¬
kirchen ins Auge zu fassen? Für die Freunde derselben sind zwei Thatsachen
Maßgebend. Zuerst die Abhängigkeit, weniger von den Regierungen, als von




") Herzog, Realencyklopädie Bd. 10. S. 14. 15.
M. Busch, Geschichte der Mormonen. Leipzig 1860. S. 2.

Wahrheit. Den Beweis dafür liefert Amerika. Mann in Philadelphia legt
das Zeugniß ab"): „Die religiöse Erziehung der Masse in den Vereinigten
Staaten war und ist entsetzlich vernachlässigt. Denn die Staatsschulen neh¬
men aus Prinzip den Religionsunterricht nicht in sich auf, die Sonntags¬
schulen aber ersetzen die in den meisten protestantischen Gemeinschaften so
gänzlich vernachlässigte Katechese keineswegs. Viele aus Europa Eingewan¬
derte werden in diesem Sektengewirre völlig confus und schwimmen zwischen
den verschiednen Kirchenparteien herum, bis sie endlich in dieser oder jener —
wer weiß von welchen zufälligen Einflüssen beherrscht — sich niederlassen."
Und Joseph Smith, der Gründer des Mormonismus bekennt? „Die Verwir¬
rung und der Kampf unter den verschiedenen religiösen Genossenschaften war
so groß, daß es für einen so jungen und mit der Welt so unbekannten Men¬
schen wie ich unmöglich war, zu irgend einem sicheren Schluß^ zu gelan¬
gen, wer Recht und wer Unrecht hatte. Mein Gemüth war mehrmals in
großer Aufregung, so gewaltig und so unablässig waren das Geschrei und
der Lärm."^)

Also Amerika wenigstens ist nicht geeignet zur Bildung von Freikirchen
einzuladen. Es zeigt uns allerdings ein lichtes Gemälde, wenn wir auf die
Intensität, welche die christliche Frömmigkeit in den Einzelnen erreicht, blicken,
ihre Opferfreudigst, ihre rege Kirchlichkeit; aber wir nehmen einen tiefen
Schatten wahr, wenn wir auf das Volk als Ganzes achten. Die Freikirche
gewinnt Einzelne für das Evangelium, verzichtet aber darauf, das Volk als
Ganzes zum Objekt der Mission zu machen. Auf die Wirkungen des frei¬
kirchlichen Systems in Schottland und Waadtland einzugehen, verzichten
wir. Die waadtländische Kirche ist sehr klein, und ihr Einfluß auf das Volk
gering. Die schottische Freikirche und die schottische Nationalkirche haben sich
Mit der Zeit sehr genähert, und ihre Wiedereinigung liegt nicht außerhalb der
Wahrscheinlichkeit. Der so ernste kirchlich strenge Nationalcharakter der Schotten
Macht es schwer zu bestimmen, ob die Staatskirche oder die Freikirche segens¬
reicher wirkt. Das christliche Leben ist hier wie dort ein gleich starkes. Auch
besteht die Freikirche eine verhältnißmäßig so kurze Zeit, daß wir gut thun,
unser Urtheil über ihre Erfolge zu suspendiren. Wir sind also nur auf
Amerika gewiesen, und die dortigen Zustände sind, wie wir gesehen haben,
keineswegs vorbildlich.

Was könnte uns also bestimmen, auch für uns die Bildung von Frei¬
kirchen ins Auge zu fassen? Für die Freunde derselben sind zwei Thatsachen
Maßgebend. Zuerst die Abhängigkeit, weniger von den Regierungen, als von




") Herzog, Realencyklopädie Bd. 10. S. 14. 15.
M. Busch, Geschichte der Mormonen. Leipzig 1860. S. 2.
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[0175] Wahrheit. Den Beweis dafür liefert Amerika. Mann in Philadelphia legt das Zeugniß ab"): „Die religiöse Erziehung der Masse in den Vereinigten Staaten war und ist entsetzlich vernachlässigt. Denn die Staatsschulen neh¬ men aus Prinzip den Religionsunterricht nicht in sich auf, die Sonntags¬ schulen aber ersetzen die in den meisten protestantischen Gemeinschaften so gänzlich vernachlässigte Katechese keineswegs. Viele aus Europa Eingewan¬ derte werden in diesem Sektengewirre völlig confus und schwimmen zwischen den verschiednen Kirchenparteien herum, bis sie endlich in dieser oder jener — wer weiß von welchen zufälligen Einflüssen beherrscht — sich niederlassen." Und Joseph Smith, der Gründer des Mormonismus bekennt? „Die Verwir¬ rung und der Kampf unter den verschiedenen religiösen Genossenschaften war so groß, daß es für einen so jungen und mit der Welt so unbekannten Men¬ schen wie ich unmöglich war, zu irgend einem sicheren Schluß^ zu gelan¬ gen, wer Recht und wer Unrecht hatte. Mein Gemüth war mehrmals in großer Aufregung, so gewaltig und so unablässig waren das Geschrei und der Lärm."^) Also Amerika wenigstens ist nicht geeignet zur Bildung von Freikirchen einzuladen. Es zeigt uns allerdings ein lichtes Gemälde, wenn wir auf die Intensität, welche die christliche Frömmigkeit in den Einzelnen erreicht, blicken, ihre Opferfreudigst, ihre rege Kirchlichkeit; aber wir nehmen einen tiefen Schatten wahr, wenn wir auf das Volk als Ganzes achten. Die Freikirche gewinnt Einzelne für das Evangelium, verzichtet aber darauf, das Volk als Ganzes zum Objekt der Mission zu machen. Auf die Wirkungen des frei¬ kirchlichen Systems in Schottland und Waadtland einzugehen, verzichten wir. Die waadtländische Kirche ist sehr klein, und ihr Einfluß auf das Volk gering. Die schottische Freikirche und die schottische Nationalkirche haben sich Mit der Zeit sehr genähert, und ihre Wiedereinigung liegt nicht außerhalb der Wahrscheinlichkeit. Der so ernste kirchlich strenge Nationalcharakter der Schotten Macht es schwer zu bestimmen, ob die Staatskirche oder die Freikirche segens¬ reicher wirkt. Das christliche Leben ist hier wie dort ein gleich starkes. Auch besteht die Freikirche eine verhältnißmäßig so kurze Zeit, daß wir gut thun, unser Urtheil über ihre Erfolge zu suspendiren. Wir sind also nur auf Amerika gewiesen, und die dortigen Zustände sind, wie wir gesehen haben, keineswegs vorbildlich. Was könnte uns also bestimmen, auch für uns die Bildung von Frei¬ kirchen ins Auge zu fassen? Für die Freunde derselben sind zwei Thatsachen Maßgebend. Zuerst die Abhängigkeit, weniger von den Regierungen, als von ") Herzog, Realencyklopädie Bd. 10. S. 14. 15. M. Busch, Geschichte der Mormonen. Leipzig 1860. S. 2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/175>, abgerufen am 22.07.2024.