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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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men hat, theils, weit dieselben auch, wie wir sehen werden, vom Standpunkt
der Freikirche aus gefordert werden können.

Der Staat hat kein Interesse die Landeskirchen aufzuheben, er ist viel¬
mehr dabei interessirt, daß sie bleiben. Er hat sich mit schwerem Herzen zur
Einführung des Civilstandsrogisters entschlossen, und wie sehr er es wünscht,
daß die kirchlichen Akte den bürgerlichen regelmäßig folgen, hat er neuerdings
noch dadurch bewiesen, daß die preußischen Ministerien ihre Beamten darauf
hingewiesen haben, daß man von ihnen erwarte, sie würden die kirchlichen
Segnungen nicht unterlassen. Es kann ferner wohl geschehen, daß der kon¬
fessionelle Charakter der höheren und niederen Schulen beschränkt wird, aber
daß dieselben ihn schlechthin verlieren und die Beziehung zu Christenthum und
Kirche völlig aufgeben sollten, können wir nicht glauben. Der Staat kann
unmöglich vergessen , daß er nicht den wechselnden Strömungen des Volks¬
geistes zu folgen, sondern auch an dem Volke eine pädagogische Aufgabe zu
erfüllen hat. Er kann nicht vergessen, daß die Wissenschaft vielleicht
Sittlichkeit und Religion zu scheiden vermag, daß aber das wirkliche Leben
eine solche Scheidung nicht kennt. Die tiefsten und nachhaltigsten Motive
empfängt die Sittlichkeit von der Religion, und diese wird im Einzelnen nur
dann eine Macht, wenn sie im Glauben einer Gesammtheit einen Rückhalt
findet. Die hervorragendsten Nationalökonomen und Historiker haben einge¬
sehen, daß die Socialdemokratie ohne Hilfe der Religion und deshalb ohne
Hilfe der Kirche nicht überwunden werden kann. Es muß daher dem Staate
daran liegen, die Kirchen, welche geschichtlich im Volke Wurzel gefaßt und
seinem sittlichen Kulturleben die Richtung gegeben haben, zu stärken und
ihren Einfluß im Volk und für das Volk zu kräftigen. Es muß ihm daran
liegen, durch die Privilegien, welchen er diesen Kirchen ertheilt, den hohen
Werth, den er ihnen zuerkennt, öffentlich zu bezeugen. Aber hat die Kirche
etwa einen Grund, auf diese Privilegien zu verzichten und die Stellung der
Freikirche zu bevorzugen? Hat sie sich vielleicht von der Rückkehr in die
Gestalt des Privatvereins einen Gewinn zu versprechen? Um uns die Basis
für die Beantwortung dieser Frage zu beschaffen, vergegenwärtigen wir uns,
daß die Auflösung der Staatskirche Hand in Hand mit der Emancipation
der Kirche vom Staate gegangen ist. Dieselbe ist noch nicht vollendet, aber
sie wird, wie wir bestimmt hoffen, binnen Kurzem vollendet werden. Dann
werden die Bestandtheile der Kirchengewalt, welche bis dahin noch der Staat
ausgeübt hat, an spezifisch kirchliche Organe übergehen. Denn die Funktionen,
welche auch dann noch der Landesherr übernehmen wird, können nicht im
engeren Sinne als staatliche angesehen werden. Und wenn sich in denselben
mittelbar der Einfluß des Staates geltend machen wird, so kann die Kirche
dies nur dankbar begrüßen. Sie hat darin eine Aufforderung zu erkennen,


men hat, theils, weit dieselben auch, wie wir sehen werden, vom Standpunkt
der Freikirche aus gefordert werden können.

Der Staat hat kein Interesse die Landeskirchen aufzuheben, er ist viel¬
mehr dabei interessirt, daß sie bleiben. Er hat sich mit schwerem Herzen zur
Einführung des Civilstandsrogisters entschlossen, und wie sehr er es wünscht,
daß die kirchlichen Akte den bürgerlichen regelmäßig folgen, hat er neuerdings
noch dadurch bewiesen, daß die preußischen Ministerien ihre Beamten darauf
hingewiesen haben, daß man von ihnen erwarte, sie würden die kirchlichen
Segnungen nicht unterlassen. Es kann ferner wohl geschehen, daß der kon¬
fessionelle Charakter der höheren und niederen Schulen beschränkt wird, aber
daß dieselben ihn schlechthin verlieren und die Beziehung zu Christenthum und
Kirche völlig aufgeben sollten, können wir nicht glauben. Der Staat kann
unmöglich vergessen , daß er nicht den wechselnden Strömungen des Volks¬
geistes zu folgen, sondern auch an dem Volke eine pädagogische Aufgabe zu
erfüllen hat. Er kann nicht vergessen, daß die Wissenschaft vielleicht
Sittlichkeit und Religion zu scheiden vermag, daß aber das wirkliche Leben
eine solche Scheidung nicht kennt. Die tiefsten und nachhaltigsten Motive
empfängt die Sittlichkeit von der Religion, und diese wird im Einzelnen nur
dann eine Macht, wenn sie im Glauben einer Gesammtheit einen Rückhalt
findet. Die hervorragendsten Nationalökonomen und Historiker haben einge¬
sehen, daß die Socialdemokratie ohne Hilfe der Religion und deshalb ohne
Hilfe der Kirche nicht überwunden werden kann. Es muß daher dem Staate
daran liegen, die Kirchen, welche geschichtlich im Volke Wurzel gefaßt und
seinem sittlichen Kulturleben die Richtung gegeben haben, zu stärken und
ihren Einfluß im Volk und für das Volk zu kräftigen. Es muß ihm daran
liegen, durch die Privilegien, welchen er diesen Kirchen ertheilt, den hohen
Werth, den er ihnen zuerkennt, öffentlich zu bezeugen. Aber hat die Kirche
etwa einen Grund, auf diese Privilegien zu verzichten und die Stellung der
Freikirche zu bevorzugen? Hat sie sich vielleicht von der Rückkehr in die
Gestalt des Privatvereins einen Gewinn zu versprechen? Um uns die Basis
für die Beantwortung dieser Frage zu beschaffen, vergegenwärtigen wir uns,
daß die Auflösung der Staatskirche Hand in Hand mit der Emancipation
der Kirche vom Staate gegangen ist. Dieselbe ist noch nicht vollendet, aber
sie wird, wie wir bestimmt hoffen, binnen Kurzem vollendet werden. Dann
werden die Bestandtheile der Kirchengewalt, welche bis dahin noch der Staat
ausgeübt hat, an spezifisch kirchliche Organe übergehen. Denn die Funktionen,
welche auch dann noch der Landesherr übernehmen wird, können nicht im
engeren Sinne als staatliche angesehen werden. Und wenn sich in denselben
mittelbar der Einfluß des Staates geltend machen wird, so kann die Kirche
dies nur dankbar begrüßen. Sie hat darin eine Aufforderung zu erkennen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/171>, abgerufen am 22.07.2024.