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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Fiktion eines, stillschweigend geschlossenen Subjektionsvertrags vielmehr dem
Territorialismus in die Hände arbeitete.*) Dem Territorialismus lag eine
einseitige Ueberspannung des Staatsbegriffs zu Grunde, welche in der kirchen¬
politischen Theorie der Reformatoren einen Anlaß, aber nicht den zureichenden
Grund hatte. Er war aber in andrer Hinsicht ein Abfall vom protestantischen
Staatsbegriff. Während dieser denselben vertiefte, entleerte ihn jener. Der
Territorialismus sah weder in dem Staat noch in der Kirche den Träger
eines höheren sittlichen Lebens, sondern suchte dieses vielmehr ausschließlich im
Individuum. Das Subjekt war ihm die einzige Stätte, wo er es zu finden
glaubte, eine Ausprägung desselben in öffentlichen Institutionen kannte er
nicht und schätzte er nicht. Er vermochte nicht die sittliche Gestaltung des
Gemeinschaftslebens in Staat und Kirche zu würdigen. Die Vertragstheorie,
aus welcher er beide, Staat und Kirche erklärte, legen dafür einen unwider-
leglicher Beweis ab. In dieser Beziehung wurzelte er in einer hyperprote¬
stantischen Auffassung des Wesens der Religion, in einer einseitigen Ueber¬
spannung des Werthes der subjektiven Religion. Der Territorialismus ist
religiöser Individualismus.

Der neueren spekulativen Philosophie und der an sie sich anschließenden
Theorie ist es gelungen, dem Staatsbegriff die verlorene sittliche Würde wieder
zu gewinnen, und darin zeigt sie ihren protestantischen Charakter, aber sie ist
allerdings theilweise auch der Gefahr nicht entgangen, die Grenzen der staat¬
lichen Aufgaben zu weit zu ziehen und der berechtigten Selbständigkeit der
Kirche die Anerkennung zu versagen. Hegel folgend, der im Staat die To¬
talität des Sittlichen sah, hat Rothe die Auslösung der Kirche in den Staat
als eine Nothwendigkeit erklärt. Die Kirche ist ihm ihrem Begriff zufolge
eine nur transitorische Gemeinschaft, die als abstrakt religiös dem Staat
als religiös-sittlicher Gemeinschaft weichen muß.**) Diesem Grundgedanken,
daß die Kirche auf dem Aussterbeetat stehe, hat Rothe freilich keine unmittel¬
bar praktische Folge gegeben, vielmehr weist er jedes gewaltsame Einschreiten
des Staates gegen die Kirche zurück und verlangt, so lange sie besteht, das
Recht freier Entwicklung für sie. Aber es steht ihm fest, daß, sobald der
Staat sich seinem Begriffe gemäß vollendet hat, die Kirche das Existenzrecht
verloren hat. Und dies Bewußtsein muß die Arbeit am Ausbau der Kirche
und die Pflege der kirchlichen Güter lähmen und schädigen.

Während Rothe durch die begriffliche Identität des Staats und der
Kirche nicht gehindert wurde, an der Auseinandersetzung beider Institutionen
und an der Herstellung einer synodalen Verfassung für die evangelische Kirche
sich zu betheiligen, so gelangte ein andrer Hegel'scher Theologe, Marheineke.




") O. Mejer. Lehrbuch des deutschen Kirchenrechts. 3. Aufl. S, 204.--5.
"
) Theologische Ethik. 2. Aufl. Bd. II, S. 411--12.

Fiktion eines, stillschweigend geschlossenen Subjektionsvertrags vielmehr dem
Territorialismus in die Hände arbeitete.*) Dem Territorialismus lag eine
einseitige Ueberspannung des Staatsbegriffs zu Grunde, welche in der kirchen¬
politischen Theorie der Reformatoren einen Anlaß, aber nicht den zureichenden
Grund hatte. Er war aber in andrer Hinsicht ein Abfall vom protestantischen
Staatsbegriff. Während dieser denselben vertiefte, entleerte ihn jener. Der
Territorialismus sah weder in dem Staat noch in der Kirche den Träger
eines höheren sittlichen Lebens, sondern suchte dieses vielmehr ausschließlich im
Individuum. Das Subjekt war ihm die einzige Stätte, wo er es zu finden
glaubte, eine Ausprägung desselben in öffentlichen Institutionen kannte er
nicht und schätzte er nicht. Er vermochte nicht die sittliche Gestaltung des
Gemeinschaftslebens in Staat und Kirche zu würdigen. Die Vertragstheorie,
aus welcher er beide, Staat und Kirche erklärte, legen dafür einen unwider-
leglicher Beweis ab. In dieser Beziehung wurzelte er in einer hyperprote¬
stantischen Auffassung des Wesens der Religion, in einer einseitigen Ueber¬
spannung des Werthes der subjektiven Religion. Der Territorialismus ist
religiöser Individualismus.

Der neueren spekulativen Philosophie und der an sie sich anschließenden
Theorie ist es gelungen, dem Staatsbegriff die verlorene sittliche Würde wieder
zu gewinnen, und darin zeigt sie ihren protestantischen Charakter, aber sie ist
allerdings theilweise auch der Gefahr nicht entgangen, die Grenzen der staat¬
lichen Aufgaben zu weit zu ziehen und der berechtigten Selbständigkeit der
Kirche die Anerkennung zu versagen. Hegel folgend, der im Staat die To¬
talität des Sittlichen sah, hat Rothe die Auslösung der Kirche in den Staat
als eine Nothwendigkeit erklärt. Die Kirche ist ihm ihrem Begriff zufolge
eine nur transitorische Gemeinschaft, die als abstrakt religiös dem Staat
als religiös-sittlicher Gemeinschaft weichen muß.**) Diesem Grundgedanken,
daß die Kirche auf dem Aussterbeetat stehe, hat Rothe freilich keine unmittel¬
bar praktische Folge gegeben, vielmehr weist er jedes gewaltsame Einschreiten
des Staates gegen die Kirche zurück und verlangt, so lange sie besteht, das
Recht freier Entwicklung für sie. Aber es steht ihm fest, daß, sobald der
Staat sich seinem Begriffe gemäß vollendet hat, die Kirche das Existenzrecht
verloren hat. Und dies Bewußtsein muß die Arbeit am Ausbau der Kirche
und die Pflege der kirchlichen Güter lähmen und schädigen.

Während Rothe durch die begriffliche Identität des Staats und der
Kirche nicht gehindert wurde, an der Auseinandersetzung beider Institutionen
und an der Herstellung einer synodalen Verfassung für die evangelische Kirche
sich zu betheiligen, so gelangte ein andrer Hegel'scher Theologe, Marheineke.




") O. Mejer. Lehrbuch des deutschen Kirchenrechts. 3. Aufl. S, 204.—5.
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[0130] Fiktion eines, stillschweigend geschlossenen Subjektionsvertrags vielmehr dem Territorialismus in die Hände arbeitete.*) Dem Territorialismus lag eine einseitige Ueberspannung des Staatsbegriffs zu Grunde, welche in der kirchen¬ politischen Theorie der Reformatoren einen Anlaß, aber nicht den zureichenden Grund hatte. Er war aber in andrer Hinsicht ein Abfall vom protestantischen Staatsbegriff. Während dieser denselben vertiefte, entleerte ihn jener. Der Territorialismus sah weder in dem Staat noch in der Kirche den Träger eines höheren sittlichen Lebens, sondern suchte dieses vielmehr ausschließlich im Individuum. Das Subjekt war ihm die einzige Stätte, wo er es zu finden glaubte, eine Ausprägung desselben in öffentlichen Institutionen kannte er nicht und schätzte er nicht. Er vermochte nicht die sittliche Gestaltung des Gemeinschaftslebens in Staat und Kirche zu würdigen. Die Vertragstheorie, aus welcher er beide, Staat und Kirche erklärte, legen dafür einen unwider- leglicher Beweis ab. In dieser Beziehung wurzelte er in einer hyperprote¬ stantischen Auffassung des Wesens der Religion, in einer einseitigen Ueber¬ spannung des Werthes der subjektiven Religion. Der Territorialismus ist religiöser Individualismus. Der neueren spekulativen Philosophie und der an sie sich anschließenden Theorie ist es gelungen, dem Staatsbegriff die verlorene sittliche Würde wieder zu gewinnen, und darin zeigt sie ihren protestantischen Charakter, aber sie ist allerdings theilweise auch der Gefahr nicht entgangen, die Grenzen der staat¬ lichen Aufgaben zu weit zu ziehen und der berechtigten Selbständigkeit der Kirche die Anerkennung zu versagen. Hegel folgend, der im Staat die To¬ talität des Sittlichen sah, hat Rothe die Auslösung der Kirche in den Staat als eine Nothwendigkeit erklärt. Die Kirche ist ihm ihrem Begriff zufolge eine nur transitorische Gemeinschaft, die als abstrakt religiös dem Staat als religiös-sittlicher Gemeinschaft weichen muß.**) Diesem Grundgedanken, daß die Kirche auf dem Aussterbeetat stehe, hat Rothe freilich keine unmittel¬ bar praktische Folge gegeben, vielmehr weist er jedes gewaltsame Einschreiten des Staates gegen die Kirche zurück und verlangt, so lange sie besteht, das Recht freier Entwicklung für sie. Aber es steht ihm fest, daß, sobald der Staat sich seinem Begriffe gemäß vollendet hat, die Kirche das Existenzrecht verloren hat. Und dies Bewußtsein muß die Arbeit am Ausbau der Kirche und die Pflege der kirchlichen Güter lähmen und schädigen. Während Rothe durch die begriffliche Identität des Staats und der Kirche nicht gehindert wurde, an der Auseinandersetzung beider Institutionen und an der Herstellung einer synodalen Verfassung für die evangelische Kirche sich zu betheiligen, so gelangte ein andrer Hegel'scher Theologe, Marheineke. ") O. Mejer. Lehrbuch des deutschen Kirchenrechts. 3. Aufl. S, 204.—5. " ) Theologische Ethik. 2. Aufl. Bd. II, S. 411—12.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/130>, abgerufen am 22.07.2024.