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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Edmund Kretschmer nennt sich der bisher noch fast unbekannte Componist
der Musik. Der Erfolg, den die Oper hier errungen, ist ein ganz bedeutender
zu nennen.

Betrachten wir zuerst das Mosenthal'sche Textbuch, so können wir nicht
umhin, dasselbe zu den besten Opernbüchern zu zählen. Ein warmer poetischer
Hauch durchweht das Ganze, das reich an tiefergreifender Situationen ist.
Naturgemäß aber weist auch dieses Libretto all' die Fehler und Uebelstände
auf, welche in höherm oder geringerm Grade einem jeden Opernbuche an¬
haften müssen. Das Zusammenwirken von dramatischer Poesie und von
Musik wird stets die eine oder die andre der beiden Künste bevorzugen müssen.
Die eine von Beiden wird der andern dienende Magd sein. So ist das
psychologische Verhältniß der Musik beim Drama, wo allenfalls Ouvertüre.
Euer'alte, Melodram, einzelne Lieder und Chöre gewisse Stimmungen erzeugen,
welche mit der vom Dichter beabsichtigten Wirkung in Wechselwirkung treten.
Der Dramatiker wird sogar selbst in den Fall kommen die Musik als noth¬
wendige Bundesgenossin zu Hülfe rufen zu müssen. Gewisse Stimmungen
lassen sich durch das gesprochene Wort allein nicht genügend zum Ausdruck
bringen, sie fordern gebieterisch Musik, So wunderbar schön und ergreifend
die Worte der Thekla "der Eichwald brauset, die Wolken ziehn" auch sind,
so tief und mächtig sie auch auf jedes empfängliche Gemüth wirken werden,
so verlangt doch Schiller selbst, daß Thekla diesen lyrischen Erguß "spielt
und singt". Es gehört eben zur künstlerischen Vollendung des Dramas, daß
gewisse Momente, welche allerdings stets nur lyrische sein werden, nicht ge¬
sprochen, sondern gesungen, oder durch Musik begleitet werden müssen. Die
Aufgabe eines möglichst guten Operntextes wird nun zunächst darin bestehen,
möglichst viel solcher lyrischer Momente zu einem Ganzen zusammen zu stellen
und zu verknüpfen. Daß der dramatische Gehalt einer solchen durch viele
lyrische Momente aufgehaltenen und in ihrer Wirkung wesentlich beeinträch¬
tigten Handlung kein sehr hoher sein kann, liegt auf der Hand. Dazu tritt
für den Dichter noch der erhebliche Uebelstand, die Einzelheiten seiner Dichtung
weniger nach den Gesetzen des Dramas, als vielmehr für das Bedürfniß des
componirenden Musikers einzurichten. Der Poet muß sich hier allerorten
unterordnen, er darf und kann eben nicht ein selbständiges Meisterwerk geben;
er muß sich darauf beschränken dem Musiker einen Stoff, eine Unterlage,
einen "Text" für die Komposition zu unterbreiten. Danach kann es uns
nicht Wunder nehmen, wenn unsre Opernbücher eine Menge dramatischer
Gebrechen mit zur Welt bringen. Für diese Thatsache sehen wir den augen¬
fälligen Beweis darin, daß unsre größten und bedeutendsten Dichter sich
überhaupt entweder gar nicht zur Dichtung von Opernbüchern herbeiließen.


Edmund Kretschmer nennt sich der bisher noch fast unbekannte Componist
der Musik. Der Erfolg, den die Oper hier errungen, ist ein ganz bedeutender
zu nennen.

Betrachten wir zuerst das Mosenthal'sche Textbuch, so können wir nicht
umhin, dasselbe zu den besten Opernbüchern zu zählen. Ein warmer poetischer
Hauch durchweht das Ganze, das reich an tiefergreifender Situationen ist.
Naturgemäß aber weist auch dieses Libretto all' die Fehler und Uebelstände
auf, welche in höherm oder geringerm Grade einem jeden Opernbuche an¬
haften müssen. Das Zusammenwirken von dramatischer Poesie und von
Musik wird stets die eine oder die andre der beiden Künste bevorzugen müssen.
Die eine von Beiden wird der andern dienende Magd sein. So ist das
psychologische Verhältniß der Musik beim Drama, wo allenfalls Ouvertüre.
Euer'alte, Melodram, einzelne Lieder und Chöre gewisse Stimmungen erzeugen,
welche mit der vom Dichter beabsichtigten Wirkung in Wechselwirkung treten.
Der Dramatiker wird sogar selbst in den Fall kommen die Musik als noth¬
wendige Bundesgenossin zu Hülfe rufen zu müssen. Gewisse Stimmungen
lassen sich durch das gesprochene Wort allein nicht genügend zum Ausdruck
bringen, sie fordern gebieterisch Musik, So wunderbar schön und ergreifend
die Worte der Thekla „der Eichwald brauset, die Wolken ziehn" auch sind,
so tief und mächtig sie auch auf jedes empfängliche Gemüth wirken werden,
so verlangt doch Schiller selbst, daß Thekla diesen lyrischen Erguß „spielt
und singt". Es gehört eben zur künstlerischen Vollendung des Dramas, daß
gewisse Momente, welche allerdings stets nur lyrische sein werden, nicht ge¬
sprochen, sondern gesungen, oder durch Musik begleitet werden müssen. Die
Aufgabe eines möglichst guten Operntextes wird nun zunächst darin bestehen,
möglichst viel solcher lyrischer Momente zu einem Ganzen zusammen zu stellen
und zu verknüpfen. Daß der dramatische Gehalt einer solchen durch viele
lyrische Momente aufgehaltenen und in ihrer Wirkung wesentlich beeinträch¬
tigten Handlung kein sehr hoher sein kann, liegt auf der Hand. Dazu tritt
für den Dichter noch der erhebliche Uebelstand, die Einzelheiten seiner Dichtung
weniger nach den Gesetzen des Dramas, als vielmehr für das Bedürfniß des
componirenden Musikers einzurichten. Der Poet muß sich hier allerorten
unterordnen, er darf und kann eben nicht ein selbständiges Meisterwerk geben;
er muß sich darauf beschränken dem Musiker einen Stoff, eine Unterlage,
einen „Text" für die Komposition zu unterbreiten. Danach kann es uns
nicht Wunder nehmen, wenn unsre Opernbücher eine Menge dramatischer
Gebrechen mit zur Welt bringen. Für diese Thatsache sehen wir den augen¬
fälligen Beweis darin, daß unsre größten und bedeutendsten Dichter sich
überhaupt entweder gar nicht zur Dichtung von Opernbüchern herbeiließen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/122>, abgerufen am 25.08.2024.