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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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kerr in Europa wie in Amerika allenthalben äußert, während der Beobachter
erstaunt ist, ihm nicht einmal in den radicalen Demokratien der Vereinigten
Staaten zu begegnen. Die Protestanten achten das Gesetz und die Autorität.
Die Katholiken, weder im Stande, die Freiheit zu begründen, noch sie zu ent¬
behren, machen den Despotismus nothwendig, ohne sich zur Unterwerfung
unter denselben zu fügen. Daher eine stets arbeitende Gährung, die auf Ex¬
plosion hintreibt. Wenn das Uebel seinen höchsten Grad erreicht, rollt das
Land in den Despotismus hinein und vom Despotismus in die Anarchie
und verzehrt seine Kräfte im Kampfe unversöhnlicher Parteien. Dieß ist das
Bild, welches uns Spanien und andere katholische Staaten darbieten, die bei
diesem Zustande angelangt sind. Frankreich scheint sich ihnen zugesellen
zu sollen. Wo kommt das Uebel her? Ich glaube die Ursache erkannt
zu haben.

Eine geregelte Freiheit ist nicht ohne gute Sitten möglich. Nun aber
sind die Seelsorger in Wirklichkeit die Einzigen, die dem Volke von der Moral
und der Pflicht sprechen, und wer ersetzt sie, wenn sie vor dem Geiste der
Massen keine Beachtung mehr finden? Die Freidenker sicherlich nicht. Vor¬
trefflich hat Guizot gesagt: das Christenthum ist eine große Schule der
Achtung vor dem Gesetz. Wenn der liberale Voltairianismus die Autorität
des Katholicismus erschüttert, wie dieß mit Nothwendigkeit durch ihn geschieht,
so verschwindet auch die Achtung vor der geschichtlichen Autorität und macht
einem Geiste des Widerspruchs, der Verunglimpfung, des Hasses und der Un-
botmäßigkeit Platz. So erzeugt sich die revolutionäre Stimmung in den ka¬
tholischen Völkern. Freiheit und Revolution werden ihnen gleichbedeutende
Dinge, wie es bei ihnen nur zu häufig Autorität und Unterdrückung sind.
Sie leben nur ruhig, wenn sie Rom vollständig unterworfen sind, wie einst
Spanien und wie jetzt Tyrol. Versuchen sie sich zu emancipiren, so entgehen
sie nur schwer der Anarchie.

In Sachen der gesellschaftlichen Reformen geht Alles leicht, wenn man
sich auf den Klerus stützt, ohne ihn oder gegen ihn ist Alles schwierig und
Vieles unmöglich. Betrachten wir zum Beispiel den Elementarunterricht.
Man decretire den obligatorischen Schulbesuch unter Beiziehung des Pfarrers,
wie er in protestantischen Ländern besteht, und man wird rasch zum Ziele
kommen. Wo dagegen, wie in katholischen Staaten, der Priester der Sache
feindselig oder gleichgültig gegenüber steht, wird das Gesetz nicht beachtet.
Man braucht, um das bestätigt zu finden, nur die Schulstatistik Italiens
anzusehen. Läßt man, wie in Belgien, den Priester als Aufseher die Schule
betreten, so bereitet er den Sieg der Theokratie vor. Vertreibe man ihn da¬
raus, so richtet er die Schule zu Grunde; denn er bewirkt dann, daß sie
nicht besucht wird. Wollte man übrigens in den Normalschulen den Lehrern


Grenzboten IV. 187S. 13

kerr in Europa wie in Amerika allenthalben äußert, während der Beobachter
erstaunt ist, ihm nicht einmal in den radicalen Demokratien der Vereinigten
Staaten zu begegnen. Die Protestanten achten das Gesetz und die Autorität.
Die Katholiken, weder im Stande, die Freiheit zu begründen, noch sie zu ent¬
behren, machen den Despotismus nothwendig, ohne sich zur Unterwerfung
unter denselben zu fügen. Daher eine stets arbeitende Gährung, die auf Ex¬
plosion hintreibt. Wenn das Uebel seinen höchsten Grad erreicht, rollt das
Land in den Despotismus hinein und vom Despotismus in die Anarchie
und verzehrt seine Kräfte im Kampfe unversöhnlicher Parteien. Dieß ist das
Bild, welches uns Spanien und andere katholische Staaten darbieten, die bei
diesem Zustande angelangt sind. Frankreich scheint sich ihnen zugesellen
zu sollen. Wo kommt das Uebel her? Ich glaube die Ursache erkannt
zu haben.

Eine geregelte Freiheit ist nicht ohne gute Sitten möglich. Nun aber
sind die Seelsorger in Wirklichkeit die Einzigen, die dem Volke von der Moral
und der Pflicht sprechen, und wer ersetzt sie, wenn sie vor dem Geiste der
Massen keine Beachtung mehr finden? Die Freidenker sicherlich nicht. Vor¬
trefflich hat Guizot gesagt: das Christenthum ist eine große Schule der
Achtung vor dem Gesetz. Wenn der liberale Voltairianismus die Autorität
des Katholicismus erschüttert, wie dieß mit Nothwendigkeit durch ihn geschieht,
so verschwindet auch die Achtung vor der geschichtlichen Autorität und macht
einem Geiste des Widerspruchs, der Verunglimpfung, des Hasses und der Un-
botmäßigkeit Platz. So erzeugt sich die revolutionäre Stimmung in den ka¬
tholischen Völkern. Freiheit und Revolution werden ihnen gleichbedeutende
Dinge, wie es bei ihnen nur zu häufig Autorität und Unterdrückung sind.
Sie leben nur ruhig, wenn sie Rom vollständig unterworfen sind, wie einst
Spanien und wie jetzt Tyrol. Versuchen sie sich zu emancipiren, so entgehen
sie nur schwer der Anarchie.

In Sachen der gesellschaftlichen Reformen geht Alles leicht, wenn man
sich auf den Klerus stützt, ohne ihn oder gegen ihn ist Alles schwierig und
Vieles unmöglich. Betrachten wir zum Beispiel den Elementarunterricht.
Man decretire den obligatorischen Schulbesuch unter Beiziehung des Pfarrers,
wie er in protestantischen Ländern besteht, und man wird rasch zum Ziele
kommen. Wo dagegen, wie in katholischen Staaten, der Priester der Sache
feindselig oder gleichgültig gegenüber steht, wird das Gesetz nicht beachtet.
Man braucht, um das bestätigt zu finden, nur die Schulstatistik Italiens
anzusehen. Läßt man, wie in Belgien, den Priester als Aufseher die Schule
betreten, so bereitet er den Sieg der Theokratie vor. Vertreibe man ihn da¬
raus, so richtet er die Schule zu Grunde; denn er bewirkt dann, daß sie
nicht besucht wird. Wollte man übrigens in den Normalschulen den Lehrern


Grenzboten IV. 187S. 13
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[0101] kerr in Europa wie in Amerika allenthalben äußert, während der Beobachter erstaunt ist, ihm nicht einmal in den radicalen Demokratien der Vereinigten Staaten zu begegnen. Die Protestanten achten das Gesetz und die Autorität. Die Katholiken, weder im Stande, die Freiheit zu begründen, noch sie zu ent¬ behren, machen den Despotismus nothwendig, ohne sich zur Unterwerfung unter denselben zu fügen. Daher eine stets arbeitende Gährung, die auf Ex¬ plosion hintreibt. Wenn das Uebel seinen höchsten Grad erreicht, rollt das Land in den Despotismus hinein und vom Despotismus in die Anarchie und verzehrt seine Kräfte im Kampfe unversöhnlicher Parteien. Dieß ist das Bild, welches uns Spanien und andere katholische Staaten darbieten, die bei diesem Zustande angelangt sind. Frankreich scheint sich ihnen zugesellen zu sollen. Wo kommt das Uebel her? Ich glaube die Ursache erkannt zu haben. Eine geregelte Freiheit ist nicht ohne gute Sitten möglich. Nun aber sind die Seelsorger in Wirklichkeit die Einzigen, die dem Volke von der Moral und der Pflicht sprechen, und wer ersetzt sie, wenn sie vor dem Geiste der Massen keine Beachtung mehr finden? Die Freidenker sicherlich nicht. Vor¬ trefflich hat Guizot gesagt: das Christenthum ist eine große Schule der Achtung vor dem Gesetz. Wenn der liberale Voltairianismus die Autorität des Katholicismus erschüttert, wie dieß mit Nothwendigkeit durch ihn geschieht, so verschwindet auch die Achtung vor der geschichtlichen Autorität und macht einem Geiste des Widerspruchs, der Verunglimpfung, des Hasses und der Un- botmäßigkeit Platz. So erzeugt sich die revolutionäre Stimmung in den ka¬ tholischen Völkern. Freiheit und Revolution werden ihnen gleichbedeutende Dinge, wie es bei ihnen nur zu häufig Autorität und Unterdrückung sind. Sie leben nur ruhig, wenn sie Rom vollständig unterworfen sind, wie einst Spanien und wie jetzt Tyrol. Versuchen sie sich zu emancipiren, so entgehen sie nur schwer der Anarchie. In Sachen der gesellschaftlichen Reformen geht Alles leicht, wenn man sich auf den Klerus stützt, ohne ihn oder gegen ihn ist Alles schwierig und Vieles unmöglich. Betrachten wir zum Beispiel den Elementarunterricht. Man decretire den obligatorischen Schulbesuch unter Beiziehung des Pfarrers, wie er in protestantischen Ländern besteht, und man wird rasch zum Ziele kommen. Wo dagegen, wie in katholischen Staaten, der Priester der Sache feindselig oder gleichgültig gegenüber steht, wird das Gesetz nicht beachtet. Man braucht, um das bestätigt zu finden, nur die Schulstatistik Italiens anzusehen. Läßt man, wie in Belgien, den Priester als Aufseher die Schule betreten, so bereitet er den Sieg der Theokratie vor. Vertreibe man ihn da¬ raus, so richtet er die Schule zu Grunde; denn er bewirkt dann, daß sie nicht besucht wird. Wollte man übrigens in den Normalschulen den Lehrern Grenzboten IV. 187S. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/101>, abgerufen am 22.07.2024.