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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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gestanden -- darüber ist gar nichts überliefert. Ueberhaupt wissen wir von
Roderich's Charakter und Absichten gar nichts. Eine gelehrte Hypothese da¬
gegen, die zuerst von zwei spanischen Historikern aufgestellt wurde, der aber
gegenwärtig die meisten Forscher beipflichten, da sie einzelne dunkele und zwei¬
deutige Aussagen der älteren Quellen in ansprechender und verständiger Weise
erklärt, -- eine Annahme gelehrter Combination ist es, daß König Witiza,
Roderich's Vorgänger, gegen das herrschende Kirchensystem sich aufgelehnt
und die kirchliche Uebermacht einzuschränken versucht habe.

Das, was die meisten Historiker also von Witiza anzunehmen sich be¬
rechtigt geglaubt, das hat Dahn auf Roderich übertragen. Er macht den
Roderich zum Vertreter der Staatsidee, der, um vor dem drohenden Untergang
sein Volk zu retten, sich vorgesetzt das bisherige Verhältniß von Staat und
Kirche umzuwandeln und der es unternimmt, die Emancipation des Staates
von der Kirche durchzusetzen. Freilich, an dem endlichen Ausgang Roderich's
konnte der Dichter nichts ändern. Die Thatsache stand fest. Trotz aller seiner
Versuche, -- mit denen der Dichter zu sympathisiren nicht verhehlt, -- mußte
Roderich dem Anprall der Mauren unterliegen, dem der Verrath auf gothi¬
scher Seite Unterstützung verliehen.

Wir haben ein Drama vor uns, daß aus das offenkundigste und leben¬
digste an die Ideen und Gefühle sich wendet, welche durch den unsere Gegen¬
wart bewegenden Conflikt zwischen Staat und Kirche in der Brust der Men¬
schen erweckt sind. Im historischen Drama stellt uns der Dichter grade die
Gegensätze vor Augen, deren Kampf in unserer Gegenwart wir täglich vor
uns sehen. Es ist ein kühnes Wagniß, -- aber von glänzendem Erfolge ist
es gekrönt.

Mit reicher Erfindungsgabe hat Dahn es verstanden, eine Menge Einzel¬
züge und Details zu schaffen und zu combiniren, die ein lebendig bewegtes
Abbild des gothischen Volkslebens uns bringen. Auch der Nichtkenner west¬
gothischer Ueberlieferung und westgothischen Rechtes wird es herausfühlen,
daß das Bild des gothischen Lebens von innerer Wahrheit erfüllt ist. "Freie
Erfindung auf Grund der Quellen" nennt Dahn selbst seine Schöpfung. Die
Quellen haben ihm den Hintergrund der Anschauungen, Sitten und Denkungs-
art, mit einem Worte die ganze Situation erschlossen, in welcher das Stück
gedacht ist. Die Figuren und die Vorgänge im Einzelnen sind Kinder dich¬
terischer Erfindung.

Wie schon bemerkt, Dahn verbirgt es nicht, auf wessen Seite er selbst
im Kampf der beiden Prinzipien steht, er widmet sein Gedicht "dem deutschen
Reich"; er schickt ihm das Motto voraus "So gebt dem Kaiser was des Kaisers
ist -- Jesus von Nazareth". Aber der Mann historischer Bildung zeigt sich
darin, daß er mit großartiger Objektivität auch das Prinzip des Gegners


gestanden — darüber ist gar nichts überliefert. Ueberhaupt wissen wir von
Roderich's Charakter und Absichten gar nichts. Eine gelehrte Hypothese da¬
gegen, die zuerst von zwei spanischen Historikern aufgestellt wurde, der aber
gegenwärtig die meisten Forscher beipflichten, da sie einzelne dunkele und zwei¬
deutige Aussagen der älteren Quellen in ansprechender und verständiger Weise
erklärt, — eine Annahme gelehrter Combination ist es, daß König Witiza,
Roderich's Vorgänger, gegen das herrschende Kirchensystem sich aufgelehnt
und die kirchliche Uebermacht einzuschränken versucht habe.

Das, was die meisten Historiker also von Witiza anzunehmen sich be¬
rechtigt geglaubt, das hat Dahn auf Roderich übertragen. Er macht den
Roderich zum Vertreter der Staatsidee, der, um vor dem drohenden Untergang
sein Volk zu retten, sich vorgesetzt das bisherige Verhältniß von Staat und
Kirche umzuwandeln und der es unternimmt, die Emancipation des Staates
von der Kirche durchzusetzen. Freilich, an dem endlichen Ausgang Roderich's
konnte der Dichter nichts ändern. Die Thatsache stand fest. Trotz aller seiner
Versuche, — mit denen der Dichter zu sympathisiren nicht verhehlt, — mußte
Roderich dem Anprall der Mauren unterliegen, dem der Verrath auf gothi¬
scher Seite Unterstützung verliehen.

Wir haben ein Drama vor uns, daß aus das offenkundigste und leben¬
digste an die Ideen und Gefühle sich wendet, welche durch den unsere Gegen¬
wart bewegenden Conflikt zwischen Staat und Kirche in der Brust der Men¬
schen erweckt sind. Im historischen Drama stellt uns der Dichter grade die
Gegensätze vor Augen, deren Kampf in unserer Gegenwart wir täglich vor
uns sehen. Es ist ein kühnes Wagniß, — aber von glänzendem Erfolge ist
es gekrönt.

Mit reicher Erfindungsgabe hat Dahn es verstanden, eine Menge Einzel¬
züge und Details zu schaffen und zu combiniren, die ein lebendig bewegtes
Abbild des gothischen Volkslebens uns bringen. Auch der Nichtkenner west¬
gothischer Ueberlieferung und westgothischen Rechtes wird es herausfühlen,
daß das Bild des gothischen Lebens von innerer Wahrheit erfüllt ist. „Freie
Erfindung auf Grund der Quellen" nennt Dahn selbst seine Schöpfung. Die
Quellen haben ihm den Hintergrund der Anschauungen, Sitten und Denkungs-
art, mit einem Worte die ganze Situation erschlossen, in welcher das Stück
gedacht ist. Die Figuren und die Vorgänge im Einzelnen sind Kinder dich¬
terischer Erfindung.

Wie schon bemerkt, Dahn verbirgt es nicht, auf wessen Seite er selbst
im Kampf der beiden Prinzipien steht, er widmet sein Gedicht „dem deutschen
Reich"; er schickt ihm das Motto voraus „So gebt dem Kaiser was des Kaisers
ist — Jesus von Nazareth". Aber der Mann historischer Bildung zeigt sich
darin, daß er mit großartiger Objektivität auch das Prinzip des Gegners


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/98>, abgerufen am 06.02.2025.