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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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daß sie zur Feier Schelling's heute gar ernstlichen Anlaß hätte, daß auch sie
nur ein Zweig ist, entsprossen dem Schellingischen Stamme noch in seiner
jugendlichsten Periode, ja daß die durch Lorenz Oken bezeichnete Ansatzstelle
dieses Zweiges bereits von den primordialen Plasmazellen umlagert ist, welche
im Verfolg dieser Denkweise immer deutlicher als unser Aller wahrhafte
Stammältern hervortraten? Wir bekommen zu den früheren Feiern zwar
hierdurch noch eine ganz eigens jenaische, aber nicht Alle möchten der
Meinung sein, daß hierdurch das gute Recht des heutigen Festtags sich steigere.

Indessen ist dies schon ein Gewinn, durch diesen letzten Zuwachs eine
große Gemeinde aus unsrer Mitwelt sich mit uns Anderen zusammenschließen
zu sehen zu dem Gedanken, welchem diese Stunde gewidmet ist. Dies verlockt
uns nachzuforschen, ob nicht außer jener Rechten und der Linken auch die
so vielfältigen mittleren Schattirungen des Denkens in unsrer Zeitgenossen¬
schaft auf Schelling's Grundgedanken zurückleiten und heute in Schelling's
Lehre ihre gemeinsame Mutter preisen sollten. Es wäre überraschend genug,
wenn wir fänden, daß heute vielleicht nur deshalb Niemand so rechtes Herz
für den Helden des Tags mitbringe, weil in uns Allen der Eine Schelling
sich verschieden indivioualisirt hat und gänzlich aufgegangen ist, wie eine
Häckel'sche Ausbe in ihre durch Theilung von ihr abstammenden Sprößlinge
aufgeht.

Und wahrlich, wie leicht ist hier der Nachweis gemeinsamer Abstammung,
oder zum Mindesten einer Entstehung aus gleicher Substanz! Schreiten wir
von der materialistischen Atomenviclheit aus näher der Mitte zu, so treffen
wir zunächst die monadologischen und alle ihnen ähnlich gesinnten Empiristen
an, kurz Alle, welche im Rückwärtsgehen von der Erfahrung aus auf eine
unbestimmte oder auch unendliche Vielheit von untheilbaren, aber unkörper¬
lichen Einheiten kommen, ob sie diese nun näher bestimmen als einfache
Realen oder als philosophische Atome oder als Kraftcentren u. tgi., aus
welchen sie dann die Dinge ebenso zusammengesetzt sein- lassen, wie der materielle
Atomismus aus seinen körperlichen untheilbaren Ur-Theilchen. Wir wollen
nicht viel Gewicht darauf legen, daß Schelling es war, der in der nachkanti-
schen Zeit zum ersten Male wieder die Aufnahme der Leibnitzischen Monado¬
logie empfahl und der, in seinen frühesten naturphilosophischen Schriften,
diese Lehre dem speculativen Idealismus einzugliedern suchte. Wesentlicher
dagegen dürfte es sein, daß jede Anschauung vom Seienden, welche sowohl
die dualistische Auseinanderreißung der ausgedehnten und der denkenden Sub¬
stanzen oder der ausgedehnten und der denkenden Erscheinungsform vermeidet,
als auch weder im Ausgedehnten allein, noch im Denkenden oder Vorstellenden
allein, das Seiende findet, sondern in einem Dritten, Allem Gemeinsamen,
zu diesen Gegensätzen Indifferenten, -- daß eine jede solche Ansicht eine


daß sie zur Feier Schelling's heute gar ernstlichen Anlaß hätte, daß auch sie
nur ein Zweig ist, entsprossen dem Schellingischen Stamme noch in seiner
jugendlichsten Periode, ja daß die durch Lorenz Oken bezeichnete Ansatzstelle
dieses Zweiges bereits von den primordialen Plasmazellen umlagert ist, welche
im Verfolg dieser Denkweise immer deutlicher als unser Aller wahrhafte
Stammältern hervortraten? Wir bekommen zu den früheren Feiern zwar
hierdurch noch eine ganz eigens jenaische, aber nicht Alle möchten der
Meinung sein, daß hierdurch das gute Recht des heutigen Festtags sich steigere.

Indessen ist dies schon ein Gewinn, durch diesen letzten Zuwachs eine
große Gemeinde aus unsrer Mitwelt sich mit uns Anderen zusammenschließen
zu sehen zu dem Gedanken, welchem diese Stunde gewidmet ist. Dies verlockt
uns nachzuforschen, ob nicht außer jener Rechten und der Linken auch die
so vielfältigen mittleren Schattirungen des Denkens in unsrer Zeitgenossen¬
schaft auf Schelling's Grundgedanken zurückleiten und heute in Schelling's
Lehre ihre gemeinsame Mutter preisen sollten. Es wäre überraschend genug,
wenn wir fänden, daß heute vielleicht nur deshalb Niemand so rechtes Herz
für den Helden des Tags mitbringe, weil in uns Allen der Eine Schelling
sich verschieden indivioualisirt hat und gänzlich aufgegangen ist, wie eine
Häckel'sche Ausbe in ihre durch Theilung von ihr abstammenden Sprößlinge
aufgeht.

Und wahrlich, wie leicht ist hier der Nachweis gemeinsamer Abstammung,
oder zum Mindesten einer Entstehung aus gleicher Substanz! Schreiten wir
von der materialistischen Atomenviclheit aus näher der Mitte zu, so treffen
wir zunächst die monadologischen und alle ihnen ähnlich gesinnten Empiristen
an, kurz Alle, welche im Rückwärtsgehen von der Erfahrung aus auf eine
unbestimmte oder auch unendliche Vielheit von untheilbaren, aber unkörper¬
lichen Einheiten kommen, ob sie diese nun näher bestimmen als einfache
Realen oder als philosophische Atome oder als Kraftcentren u. tgi., aus
welchen sie dann die Dinge ebenso zusammengesetzt sein- lassen, wie der materielle
Atomismus aus seinen körperlichen untheilbaren Ur-Theilchen. Wir wollen
nicht viel Gewicht darauf legen, daß Schelling es war, der in der nachkanti-
schen Zeit zum ersten Male wieder die Aufnahme der Leibnitzischen Monado¬
logie empfahl und der, in seinen frühesten naturphilosophischen Schriften,
diese Lehre dem speculativen Idealismus einzugliedern suchte. Wesentlicher
dagegen dürfte es sein, daß jede Anschauung vom Seienden, welche sowohl
die dualistische Auseinanderreißung der ausgedehnten und der denkenden Sub¬
stanzen oder der ausgedehnten und der denkenden Erscheinungsform vermeidet,
als auch weder im Ausgedehnten allein, noch im Denkenden oder Vorstellenden
allein, das Seiende findet, sondern in einem Dritten, Allem Gemeinsamen,
zu diesen Gegensätzen Indifferenten, — daß eine jede solche Ansicht eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/8>, abgerufen am 06.02.2025.