Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.ein Zeugniß ausgestellt, daß er das theologische Examen rühmlich bestanden 2. November. Früh in der Kirche, um der Probepredigt des Candi- Nach Tische halte ich für Kroll, der diesen Nachmittag eine Trauung Abends muß ich an die Stegreispredigt, die Sanct Paulus seinen Pasto¬ ein Zeugniß ausgestellt, daß er das theologische Examen rühmlich bestanden 2. November. Früh in der Kirche, um der Probepredigt des Candi- Nach Tische halte ich für Kroll, der diesen Nachmittag eine Trauung Abends muß ich an die Stegreispredigt, die Sanct Paulus seinen Pasto¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133355"/> <p xml:id="ID_194" prev="#ID_193"> ein Zeugniß ausgestellt, daß er das theologische Examen rühmlich bestanden<lb/> habe. Der Mensch hat nie eine Universität, geschweige denn ein Auditorium<lb/> der Gottesgelahrtheit gesehen. Aber das Zeugniß hat ihm eine recht gute<lb/> Stelle verschafft. Auch von Herrsch, der inzwischen gepredigt hat, aber nicht<lb/> auf die engere Wahl gestellt werden soll, weiß Schlüter unerfreuliche Dinge<lb/> M berichten. Nach ihm hätte der würdige Herr Jura studirt, wäre dann<lb/> Auscultator bei Magdeburg gewesen und hätte darauf, nachdem er an den<lb/> Klippen des zweiten Examens Schiffbruch gelitten, eine Stelle — der Erzähler<lb/> sagte als Actuar — in Calbe bekleidet, die er einige Jahre nachher —<lb/> Schlüters boshafter Witz bezeichnete die Ursache als „Kassenconfecte" — mit<lb/> einer weniger angenehmen im Zuchthause der Provinz Sachsen vertauscht hätte.<lb/> Zuletzt wäre er Lederhändler gewesen, was ich nach dem Urtheile Rotherts<lb/> und Krölls über seine Probepredigt für nicht unglaubwürdig halte, während<lb/> wir uns die übrigen biographischen Notizen nur als ein Beispiel der üblen<lb/> Nachrede merken wollen, die hier hinter jedem Bewerber um eine kirchliche<lb/> Stelle im Sattel sitzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_195"> 2. November. Früh in der Kirche, um der Probepredigt des Candi-<lb/> daten Knab (eines würtembergischen Flüchtlings) beizuwohnen, die eine Art<lb/> leipziger Allerlei aus Hegel'schen Phrasen, Schleiermacher'schen Definitionen,<lb/> rationalistischen und orthodoxen Redensarten war und durch den Dialekt des<lb/> Redners, in dem der Infinitiv kein N hatte, der Geist sich Gaischt, die Fin-<lb/> sterniß sich Finschterniß nannte und die Rh wie Spinnräder schnurrten, nicht<lb/> genießbarer wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_196"> Nach Tische halte ich für Kroll, der diesen Nachmittag eine Trauung<lb/> und vier Taufen zu besorgen hat, in der Johanniskirche die Kinderlehre ab,<lb/> wobei ein Lied gesungen und eine Stelle aus der Bergpredigt erklärt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_197" next="#ID_198"> Abends muß ich an die Stegreispredigt, die Sanct Paulus seinen Pasto¬<lb/> ren zumuthet. Mir graute ein wenig vor diesem Kelch, aber ich weiß nicht.<lb/> Wie es kam, es ging viel besser, als ich erwartet. Mit Bibel und Gesang¬<lb/> buch bestieg ich die Kanzel und ließ ein Lied von drei Versen singen. Beim<lb/> zweiten kam einer vom Kirchenrath zu mir herauf und hielt mir — so will<lb/> es der Brauch hier — ein Körbchen mit Zetteln hin, die auf kleine Holzstäbe<lb/> gewickelt waren, und von denen jeder einen Text enthielt. Ich hatte mir<lb/> einen davon auf Gerathewohl zu nehmen, mir den Inhalt., bis der letzte<lb/> Vers ausgesungen war, zu überlegen und dann zu sagen, was ich darüber<lb/> zu sagen wußte. Ich hatte aus der Lotterie ein Loos gezogen, das eine Stelle<lb/> aus dem Timotheusbriefe enthielt, der zweite Vers verklang und bald auch der<lb/> dritte. Was ich dann, erst stockend, dann geläufiger, zuletzt fließend, geredet<lb/> habe, weiß ich nicht. Ich war nie Jmprovisator, brachte kaum je auch nur<lb/> einen leidlichen Toast, wie so Manche ihn aus der Westentasche greifen, zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
ein Zeugniß ausgestellt, daß er das theologische Examen rühmlich bestanden
habe. Der Mensch hat nie eine Universität, geschweige denn ein Auditorium
der Gottesgelahrtheit gesehen. Aber das Zeugniß hat ihm eine recht gute
Stelle verschafft. Auch von Herrsch, der inzwischen gepredigt hat, aber nicht
auf die engere Wahl gestellt werden soll, weiß Schlüter unerfreuliche Dinge
M berichten. Nach ihm hätte der würdige Herr Jura studirt, wäre dann
Auscultator bei Magdeburg gewesen und hätte darauf, nachdem er an den
Klippen des zweiten Examens Schiffbruch gelitten, eine Stelle — der Erzähler
sagte als Actuar — in Calbe bekleidet, die er einige Jahre nachher —
Schlüters boshafter Witz bezeichnete die Ursache als „Kassenconfecte" — mit
einer weniger angenehmen im Zuchthause der Provinz Sachsen vertauscht hätte.
Zuletzt wäre er Lederhändler gewesen, was ich nach dem Urtheile Rotherts
und Krölls über seine Probepredigt für nicht unglaubwürdig halte, während
wir uns die übrigen biographischen Notizen nur als ein Beispiel der üblen
Nachrede merken wollen, die hier hinter jedem Bewerber um eine kirchliche
Stelle im Sattel sitzt.
2. November. Früh in der Kirche, um der Probepredigt des Candi-
daten Knab (eines würtembergischen Flüchtlings) beizuwohnen, die eine Art
leipziger Allerlei aus Hegel'schen Phrasen, Schleiermacher'schen Definitionen,
rationalistischen und orthodoxen Redensarten war und durch den Dialekt des
Redners, in dem der Infinitiv kein N hatte, der Geist sich Gaischt, die Fin-
sterniß sich Finschterniß nannte und die Rh wie Spinnräder schnurrten, nicht
genießbarer wurde.
Nach Tische halte ich für Kroll, der diesen Nachmittag eine Trauung
und vier Taufen zu besorgen hat, in der Johanniskirche die Kinderlehre ab,
wobei ein Lied gesungen und eine Stelle aus der Bergpredigt erklärt wird.
Abends muß ich an die Stegreispredigt, die Sanct Paulus seinen Pasto¬
ren zumuthet. Mir graute ein wenig vor diesem Kelch, aber ich weiß nicht.
Wie es kam, es ging viel besser, als ich erwartet. Mit Bibel und Gesang¬
buch bestieg ich die Kanzel und ließ ein Lied von drei Versen singen. Beim
zweiten kam einer vom Kirchenrath zu mir herauf und hielt mir — so will
es der Brauch hier — ein Körbchen mit Zetteln hin, die auf kleine Holzstäbe
gewickelt waren, und von denen jeder einen Text enthielt. Ich hatte mir
einen davon auf Gerathewohl zu nehmen, mir den Inhalt., bis der letzte
Vers ausgesungen war, zu überlegen und dann zu sagen, was ich darüber
zu sagen wußte. Ich hatte aus der Lotterie ein Loos gezogen, das eine Stelle
aus dem Timotheusbriefe enthielt, der zweite Vers verklang und bald auch der
dritte. Was ich dann, erst stockend, dann geläufiger, zuletzt fließend, geredet
habe, weiß ich nicht. Ich war nie Jmprovisator, brachte kaum je auch nur
einen leidlichen Toast, wie so Manche ihn aus der Westentasche greifen, zu
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