Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.Arbeiter die Interessen der Arbeitgeber besonders ncichtheilig berührt werden; Wenngleich ich es nicht wagen möchte, über die Frage, ob die sittliche Die jetzige Klasse der Arbeiter, sowohl der industriellen wie der ländlichen, Arbeiter die Interessen der Arbeitgeber besonders ncichtheilig berührt werden; Wenngleich ich es nicht wagen möchte, über die Frage, ob die sittliche Die jetzige Klasse der Arbeiter, sowohl der industriellen wie der ländlichen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133343"/> <p xml:id="ID_150" prev="#ID_149"> Arbeiter die Interessen der Arbeitgeber besonders ncichtheilig berührt werden;<lb/> und es ist daher sehr natürlich, daß letztere hierauf ein starkes, vielleicht allzu¬<lb/> starkes Gewicht legen.</p><lb/> <p xml:id="ID_151"> Wenngleich ich es nicht wagen möchte, über die Frage, ob die sittliche<lb/> Entwicklung unserer Arbeiterklasse in fortschreitender oder rückschreitender Be¬<lb/> wegung sich befinde, ein ganz sicheres und endgültiges Urtheil zu fällen, so<lb/> glaube ich doch mit größter Bestimmtheit die Behauptung aussprechen zu<lb/> dürfen, daß der verhältnißmäßig große Erfolg der unzweifelhaft von unsitt¬<lb/> lichen Grundsätzen geleiteten Socialdemokratie keineswegs durch eine Abnahme<lb/> des sittlichen Bewußtseins unter den Arbeitern begründet werden kann. Der<lb/> Einfluß und die Macht, welche die socialistischen Agitatoren thatsächlich aus¬<lb/> üben, sind auf ganz andere Ursachen zurückzuführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_152" next="#ID_153"> Die jetzige Klasse der Arbeiter, sowohl der industriellen wie der ländlichen,<lb/> ist eigentlich eine ganz neue, früher nicht dagewesene Klasse unserer bürger¬<lb/> lichen Gesellschaft. Die gewerblichen Arbeiter bestanden ehemals zum weit<lb/> überwiegenden Theil aus Handwerks-Gesellen oder Lehrlingen, welche mit<lb/> ihren Meistern in dem gleichen Jnnungsverband lebten und wesentlich zu<lb/> derselben Volksklasse gehörten; die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer waren<lb/> gutsunterthänige Bauern oder besitzlose Leibeigene, durch unauflösliche Bande<lb/> an ihre eigene und die Scholle ihres Gutsherrn geknüpft. Die jetzigen indu¬<lb/> striellen und ländlichen Arbeitnehmer sind persönlich vollständig frei, sie können<lb/> ihr Brod verdienen, wo und auf welche Weise es ihnen beliebt; sie sind an<lb/> keinen bestimmten Arbeitgeber und an keine bestimmte Corporation gefesselt;<lb/> sie sind aber auch auf sich selbst ausschließlich angewiesen, sie befinden sich in<lb/> keinem organischen Zusammenhang mit irgend einer andern Klasse der bürger¬<lb/> lichen Gesellschaft. Nun haben stets diejenigen Menschen, welche unter den<lb/> gleichen wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen leben, das drin¬<lb/> gende Bedürfniß, sich aneinander anzuschließen; sie suchen nach einer Organi¬<lb/> sation, welche es ihnen ermöglicht, ihre geselligen Bedürfnisse zu befriedigen,<lb/> über gemeinsame Interessen zu berathen und dieselben durch gemeinsames<lb/> Handeln zu wirksamer Geltung zu bringen. Ein derartiges Bedürfniß zeigt<lb/> sich als um so größer, je zahlreicher die betreffende Volksklasse ist und je<lb/> weniger die Glieder derselben vermöge ihrer individuellen geistigen und ma¬<lb/> teriellen Mittel befähigt sind, durch vereinzeltes Handeln ihre Wünsche und<lb/> Interessen zu realisiren. Die wirthschaftliche Gesetzgebung der letzten 60—70<lb/> Jahre hat ja in der That Großes geleistet; sie hat schlummernde oder ge¬<lb/> fesselte Kräfte in einer früher unglaublich scheinenden Menge zur Wirksamkeit<lb/> gebracht; aber dabei hat sie in den Organismus der bürgerlichen Gesellschaft<lb/> eine bis jetzt noch unausgefüllte Lücke gerissen. Die Arbeitnehmer haben den<lb/> Halt verloren, welchen ihnen bei den alten wirthschaftlichen Zuständen die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
Arbeiter die Interessen der Arbeitgeber besonders ncichtheilig berührt werden;
und es ist daher sehr natürlich, daß letztere hierauf ein starkes, vielleicht allzu¬
starkes Gewicht legen.
Wenngleich ich es nicht wagen möchte, über die Frage, ob die sittliche
Entwicklung unserer Arbeiterklasse in fortschreitender oder rückschreitender Be¬
wegung sich befinde, ein ganz sicheres und endgültiges Urtheil zu fällen, so
glaube ich doch mit größter Bestimmtheit die Behauptung aussprechen zu
dürfen, daß der verhältnißmäßig große Erfolg der unzweifelhaft von unsitt¬
lichen Grundsätzen geleiteten Socialdemokratie keineswegs durch eine Abnahme
des sittlichen Bewußtseins unter den Arbeitern begründet werden kann. Der
Einfluß und die Macht, welche die socialistischen Agitatoren thatsächlich aus¬
üben, sind auf ganz andere Ursachen zurückzuführen.
Die jetzige Klasse der Arbeiter, sowohl der industriellen wie der ländlichen,
ist eigentlich eine ganz neue, früher nicht dagewesene Klasse unserer bürger¬
lichen Gesellschaft. Die gewerblichen Arbeiter bestanden ehemals zum weit
überwiegenden Theil aus Handwerks-Gesellen oder Lehrlingen, welche mit
ihren Meistern in dem gleichen Jnnungsverband lebten und wesentlich zu
derselben Volksklasse gehörten; die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer waren
gutsunterthänige Bauern oder besitzlose Leibeigene, durch unauflösliche Bande
an ihre eigene und die Scholle ihres Gutsherrn geknüpft. Die jetzigen indu¬
striellen und ländlichen Arbeitnehmer sind persönlich vollständig frei, sie können
ihr Brod verdienen, wo und auf welche Weise es ihnen beliebt; sie sind an
keinen bestimmten Arbeitgeber und an keine bestimmte Corporation gefesselt;
sie sind aber auch auf sich selbst ausschließlich angewiesen, sie befinden sich in
keinem organischen Zusammenhang mit irgend einer andern Klasse der bürger¬
lichen Gesellschaft. Nun haben stets diejenigen Menschen, welche unter den
gleichen wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen leben, das drin¬
gende Bedürfniß, sich aneinander anzuschließen; sie suchen nach einer Organi¬
sation, welche es ihnen ermöglicht, ihre geselligen Bedürfnisse zu befriedigen,
über gemeinsame Interessen zu berathen und dieselben durch gemeinsames
Handeln zu wirksamer Geltung zu bringen. Ein derartiges Bedürfniß zeigt
sich als um so größer, je zahlreicher die betreffende Volksklasse ist und je
weniger die Glieder derselben vermöge ihrer individuellen geistigen und ma¬
teriellen Mittel befähigt sind, durch vereinzeltes Handeln ihre Wünsche und
Interessen zu realisiren. Die wirthschaftliche Gesetzgebung der letzten 60—70
Jahre hat ja in der That Großes geleistet; sie hat schlummernde oder ge¬
fesselte Kräfte in einer früher unglaublich scheinenden Menge zur Wirksamkeit
gebracht; aber dabei hat sie in den Organismus der bürgerlichen Gesellschaft
eine bis jetzt noch unausgefüllte Lücke gerissen. Die Arbeitnehmer haben den
Halt verloren, welchen ihnen bei den alten wirthschaftlichen Zuständen die
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