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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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dürfnisse des Menschenlebens durch die harte Arbeit der Masse befriedigt
werden."

So sind die Grundlagen der Gesellschaft eine Ordnung der Natur, eine
lebendige Arbeitsgemeinschaft, in der jedes Glied empfängt und gibt; niemand
vermag zu sagen, welche Klassen am meisten gewonnen haben. "Von socialem
Unrecht darf der Historiker nun dann reden, wenn er das Bewußtsein des Un¬
rechts in der Zeit selber findet." Mit dem Unterschied des Vermögens und
der Beschäftigung, schloß Treitschke weiter, ist der Abstand der Bildung ge¬
geben. Das führt Schmoller zu dem Einwand: "soll gar keine Gemeinschaft
der nationalen Bildung bestehen?" Gewiß, erwidert Treitschke. Aber die Ein¬
heit der nationalen Bildung soll "darauf hinarbeiten, daß gewisse sittliche
Grundwahrheiten der gesammten Nation zur andern Natur werden; sie soll
dem Fürstensohn wie dem Handwerkerkinde ein lebendiges Pflichtgefühl erwecken,
den Kindern aller Confessionen Ehrfurcht vor der sittlichen Leitung der Welt
und Duldung gegen Andersgläubige, dazu Achtung vor dem Gesetze und jenen
schlichten Nationalstolz, der jedes Opfer für das Baterland als selbstverständ¬
lich auf sich nimmt." Diese stets fortgeschrittene gemeinsame und einheitliche
Bildung sei in den letzten Jahrzehnten schwer geschädigt durch das Aufwuchern
der anmaßenden Halbbildung, namentlich in den niederen Klassen, wofür sie
den Pflicht- und Ehrbegriffen der Gebildeten ferner stehen, als je zuvor. Es
werde schwer fallen, diese Kluft wieder zu überbrücken. Aber auch , wenn es
gelinge, bestehe über der Durchschnittsbildung der Massen immer eine höhere
Bildung. Wer sie erreicht, steigt eben dadurch in die höheren Klassen auf.
Ueberhaupt vollzieht sich die allmähliche Milderung der Klassengegensätze auf
zweifachen Wege: durch das steigende Ansehen der freien Arbeit und das
Steigen der politischen Rechte, das freilich auch bei der freiesten Verfassung
niemals dahin führen wird, daß die niederen Klassen in den Parlamenten
und im Staate herrschen; noch sicherer aber durch die Beseitigung der Schran¬
ken, welche den in Armuth Geborenen hindern emporzusteigen in den Kreis
der Besitzenden und Gebildeten. "Der freie Wettbewerb Aller um die Güter
der Gesittung, deren volles Maß immer nur von einer Minderheit erreicht
werden kann -- das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe."

Gustav Schmoller ist mit diesem Gleichheitsbegriffe sehr unzufrieden. Er
versucht eine rechtliche Ordnung einzuführen in die Kämpfe des Wettbewerbes,
die ihm chaotisch erscheinen. Er entlehnt dem Aristoteles den Begriff der ver¬
theilenden Gerechtigkeit und fordert: "das Einkommen und Vermögen soll den
Tugenden und Leistungen entsprechen;" "die äußere Vertheilung der Güter
und Ehren hat den inneren sittlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen
zu entsprechen." "Sie erneuern damit in mildernder Umschreibung die Lehre
der Se. Simonisten!" ruft ihm Treitschke zu. "Jedem nach selner Fähigkeit,


dürfnisse des Menschenlebens durch die harte Arbeit der Masse befriedigt
werden."

So sind die Grundlagen der Gesellschaft eine Ordnung der Natur, eine
lebendige Arbeitsgemeinschaft, in der jedes Glied empfängt und gibt; niemand
vermag zu sagen, welche Klassen am meisten gewonnen haben. „Von socialem
Unrecht darf der Historiker nun dann reden, wenn er das Bewußtsein des Un¬
rechts in der Zeit selber findet." Mit dem Unterschied des Vermögens und
der Beschäftigung, schloß Treitschke weiter, ist der Abstand der Bildung ge¬
geben. Das führt Schmoller zu dem Einwand: „soll gar keine Gemeinschaft
der nationalen Bildung bestehen?" Gewiß, erwidert Treitschke. Aber die Ein¬
heit der nationalen Bildung soll „darauf hinarbeiten, daß gewisse sittliche
Grundwahrheiten der gesammten Nation zur andern Natur werden; sie soll
dem Fürstensohn wie dem Handwerkerkinde ein lebendiges Pflichtgefühl erwecken,
den Kindern aller Confessionen Ehrfurcht vor der sittlichen Leitung der Welt
und Duldung gegen Andersgläubige, dazu Achtung vor dem Gesetze und jenen
schlichten Nationalstolz, der jedes Opfer für das Baterland als selbstverständ¬
lich auf sich nimmt." Diese stets fortgeschrittene gemeinsame und einheitliche
Bildung sei in den letzten Jahrzehnten schwer geschädigt durch das Aufwuchern
der anmaßenden Halbbildung, namentlich in den niederen Klassen, wofür sie
den Pflicht- und Ehrbegriffen der Gebildeten ferner stehen, als je zuvor. Es
werde schwer fallen, diese Kluft wieder zu überbrücken. Aber auch , wenn es
gelinge, bestehe über der Durchschnittsbildung der Massen immer eine höhere
Bildung. Wer sie erreicht, steigt eben dadurch in die höheren Klassen auf.
Ueberhaupt vollzieht sich die allmähliche Milderung der Klassengegensätze auf
zweifachen Wege: durch das steigende Ansehen der freien Arbeit und das
Steigen der politischen Rechte, das freilich auch bei der freiesten Verfassung
niemals dahin führen wird, daß die niederen Klassen in den Parlamenten
und im Staate herrschen; noch sicherer aber durch die Beseitigung der Schran¬
ken, welche den in Armuth Geborenen hindern emporzusteigen in den Kreis
der Besitzenden und Gebildeten. „Der freie Wettbewerb Aller um die Güter
der Gesittung, deren volles Maß immer nur von einer Minderheit erreicht
werden kann — das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe."

Gustav Schmoller ist mit diesem Gleichheitsbegriffe sehr unzufrieden. Er
versucht eine rechtliche Ordnung einzuführen in die Kämpfe des Wettbewerbes,
die ihm chaotisch erscheinen. Er entlehnt dem Aristoteles den Begriff der ver¬
theilenden Gerechtigkeit und fordert: „das Einkommen und Vermögen soll den
Tugenden und Leistungen entsprechen;" „die äußere Vertheilung der Güter
und Ehren hat den inneren sittlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen
zu entsprechen." „Sie erneuern damit in mildernder Umschreibung die Lehre
der Se. Simonisten!" ruft ihm Treitschke zu. „Jedem nach selner Fähigkeit,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/518>, abgerufen am 06.02.2025.