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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Universitäten zählen in ihrem gescunmten Lehrkörper nur einen einzigen Ka
thedersocialisten: den Ordinarius der Volkswirthschaft. Unsere Gelehrten leben
fast allesammt in beschränkten Verhältnissen, sie leiden schwer unter den neuen
Zuständen der Volkswirthschaft, sie haben durchaus kein Klasseninteresse gemein
mit den aufsteigenden Mächten des Großcapitals; doch sie wissen auch, daß
die Wissenschaft den Ernst und die Strenge deutscher Bildung zu behüten hat
vor jener Verhöhnung aller guten Sitte, welche heute den Massen gepredigt
wird, und daß es ihr am Wenigsten geziemt, den Feinden der Kultur mit
unbedachten Worten entgegenzukommen."

Der Zweck seiner früheren Arbeit, sagt Treitschke, sei ein zwiefacher ge¬
wesen: sie sollte vor socialistischen Unmöglichkeiten warnen, doch ebenso be¬
stimmt eine durchdachte, schrittweis vorgehende sociale Gesetzgebung, eine weit
größere Thätigkeit der Besitzenden für das Wohl der Arbeiter fordern. Dieser
Absicht kann allerdings kaum irgend etwas fremdartiger gegenüberstehen, als
der Standpunkt Schmoller's, welcher am kürzesten in dem Satze ausgedrückt ist:
"Die wirthschaftliche Klassenbildung entspringt aus Unrecht und Gewalt."
Schmoller hat diesen Satz zwar nun zurückgenommen, als "eine von ihm selbst
verfehlte Wiedergabe." Aber nur in der Form. Die gesammte düstre Schilde¬
rung von der tragischen Schuld der höheren Stände in der neuesten Schmoller'-
sehen Schrift stützt sich auf diesen Satz. Alle Leser und Hörer Schmoller's er¬
kennen gerade in diesem Wort "den festen Kern seiner Gedanken." "Wissen
Sie denn nicht," ruft ihm Treitschke zu. "daß die Lehre von dem uranfäng¬
lichen Unrecht der Besitzenden das beliebteste und wirksamste Dogma der So¬
cialdemokraten ist? Sie senden das Brandwort unschuldig in die Welt hin¬
aus, Sie erlauben den Demagogen, bei ihren frechsten Anklagen wider
die Gesellschaft sich aus den gemäßigten Schmoller zu berufen. Ihre Gegner
wissen niemals recht, woran man mit Ihnen ist. Heute reden Sie als der
begeisterte Prophet einer ungeheuren Zukunft, morgen als der friedliche
Staatsbürger, der nichts gesagt haben will. Aehnltch verfahren Sie mit einem
anderen Krafworte der Socialdemokratie: gebt uns Reformen, sonst naht
die Revolution! Natürlich soll das Wort in Ihrem Munde nur sagen: alle
Geschichte ist Werden; versäumt man das Veraltete rechtzeitig zu beseitigen,
so brechen die zeitgemäßen Kräfte sich gewaltsam ihre Bahn -- eine Wahr¬
heit, die sicherlich auf den Reiz der Neuheit keinen Anspruch hat. Doch wer
verbürgt Ihnen, daß das harmlos Gesagte heute ebenso harmlos aufgenom¬
men wird?"

Noch einmal geht Treitschke die wesentlichen Gedanken und Ergebnisse
feiner letzten Schrift mit dem Gegner durch. "Ich versuchte, aus der Natur
der Gesellschaft zu erkennen, welche Grenzen die sociale Bewegung niemals
überschreiten kann. Sie "erachten solche Erörterungen der Grundbegriffe als


Universitäten zählen in ihrem gescunmten Lehrkörper nur einen einzigen Ka
thedersocialisten: den Ordinarius der Volkswirthschaft. Unsere Gelehrten leben
fast allesammt in beschränkten Verhältnissen, sie leiden schwer unter den neuen
Zuständen der Volkswirthschaft, sie haben durchaus kein Klasseninteresse gemein
mit den aufsteigenden Mächten des Großcapitals; doch sie wissen auch, daß
die Wissenschaft den Ernst und die Strenge deutscher Bildung zu behüten hat
vor jener Verhöhnung aller guten Sitte, welche heute den Massen gepredigt
wird, und daß es ihr am Wenigsten geziemt, den Feinden der Kultur mit
unbedachten Worten entgegenzukommen."

Der Zweck seiner früheren Arbeit, sagt Treitschke, sei ein zwiefacher ge¬
wesen: sie sollte vor socialistischen Unmöglichkeiten warnen, doch ebenso be¬
stimmt eine durchdachte, schrittweis vorgehende sociale Gesetzgebung, eine weit
größere Thätigkeit der Besitzenden für das Wohl der Arbeiter fordern. Dieser
Absicht kann allerdings kaum irgend etwas fremdartiger gegenüberstehen, als
der Standpunkt Schmoller's, welcher am kürzesten in dem Satze ausgedrückt ist:
„Die wirthschaftliche Klassenbildung entspringt aus Unrecht und Gewalt."
Schmoller hat diesen Satz zwar nun zurückgenommen, als „eine von ihm selbst
verfehlte Wiedergabe." Aber nur in der Form. Die gesammte düstre Schilde¬
rung von der tragischen Schuld der höheren Stände in der neuesten Schmoller'-
sehen Schrift stützt sich auf diesen Satz. Alle Leser und Hörer Schmoller's er¬
kennen gerade in diesem Wort „den festen Kern seiner Gedanken." „Wissen
Sie denn nicht," ruft ihm Treitschke zu. „daß die Lehre von dem uranfäng¬
lichen Unrecht der Besitzenden das beliebteste und wirksamste Dogma der So¬
cialdemokraten ist? Sie senden das Brandwort unschuldig in die Welt hin¬
aus, Sie erlauben den Demagogen, bei ihren frechsten Anklagen wider
die Gesellschaft sich aus den gemäßigten Schmoller zu berufen. Ihre Gegner
wissen niemals recht, woran man mit Ihnen ist. Heute reden Sie als der
begeisterte Prophet einer ungeheuren Zukunft, morgen als der friedliche
Staatsbürger, der nichts gesagt haben will. Aehnltch verfahren Sie mit einem
anderen Krafworte der Socialdemokratie: gebt uns Reformen, sonst naht
die Revolution! Natürlich soll das Wort in Ihrem Munde nur sagen: alle
Geschichte ist Werden; versäumt man das Veraltete rechtzeitig zu beseitigen,
so brechen die zeitgemäßen Kräfte sich gewaltsam ihre Bahn — eine Wahr¬
heit, die sicherlich auf den Reiz der Neuheit keinen Anspruch hat. Doch wer
verbürgt Ihnen, daß das harmlos Gesagte heute ebenso harmlos aufgenom¬
men wird?"

Noch einmal geht Treitschke die wesentlichen Gedanken und Ergebnisse
feiner letzten Schrift mit dem Gegner durch. „Ich versuchte, aus der Natur
der Gesellschaft zu erkennen, welche Grenzen die sociale Bewegung niemals
überschreiten kann. Sie »erachten solche Erörterungen der Grundbegriffe als


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[0516] Universitäten zählen in ihrem gescunmten Lehrkörper nur einen einzigen Ka thedersocialisten: den Ordinarius der Volkswirthschaft. Unsere Gelehrten leben fast allesammt in beschränkten Verhältnissen, sie leiden schwer unter den neuen Zuständen der Volkswirthschaft, sie haben durchaus kein Klasseninteresse gemein mit den aufsteigenden Mächten des Großcapitals; doch sie wissen auch, daß die Wissenschaft den Ernst und die Strenge deutscher Bildung zu behüten hat vor jener Verhöhnung aller guten Sitte, welche heute den Massen gepredigt wird, und daß es ihr am Wenigsten geziemt, den Feinden der Kultur mit unbedachten Worten entgegenzukommen." Der Zweck seiner früheren Arbeit, sagt Treitschke, sei ein zwiefacher ge¬ wesen: sie sollte vor socialistischen Unmöglichkeiten warnen, doch ebenso be¬ stimmt eine durchdachte, schrittweis vorgehende sociale Gesetzgebung, eine weit größere Thätigkeit der Besitzenden für das Wohl der Arbeiter fordern. Dieser Absicht kann allerdings kaum irgend etwas fremdartiger gegenüberstehen, als der Standpunkt Schmoller's, welcher am kürzesten in dem Satze ausgedrückt ist: „Die wirthschaftliche Klassenbildung entspringt aus Unrecht und Gewalt." Schmoller hat diesen Satz zwar nun zurückgenommen, als „eine von ihm selbst verfehlte Wiedergabe." Aber nur in der Form. Die gesammte düstre Schilde¬ rung von der tragischen Schuld der höheren Stände in der neuesten Schmoller'- sehen Schrift stützt sich auf diesen Satz. Alle Leser und Hörer Schmoller's er¬ kennen gerade in diesem Wort „den festen Kern seiner Gedanken." „Wissen Sie denn nicht," ruft ihm Treitschke zu. „daß die Lehre von dem uranfäng¬ lichen Unrecht der Besitzenden das beliebteste und wirksamste Dogma der So¬ cialdemokraten ist? Sie senden das Brandwort unschuldig in die Welt hin¬ aus, Sie erlauben den Demagogen, bei ihren frechsten Anklagen wider die Gesellschaft sich aus den gemäßigten Schmoller zu berufen. Ihre Gegner wissen niemals recht, woran man mit Ihnen ist. Heute reden Sie als der begeisterte Prophet einer ungeheuren Zukunft, morgen als der friedliche Staatsbürger, der nichts gesagt haben will. Aehnltch verfahren Sie mit einem anderen Krafworte der Socialdemokratie: gebt uns Reformen, sonst naht die Revolution! Natürlich soll das Wort in Ihrem Munde nur sagen: alle Geschichte ist Werden; versäumt man das Veraltete rechtzeitig zu beseitigen, so brechen die zeitgemäßen Kräfte sich gewaltsam ihre Bahn — eine Wahr¬ heit, die sicherlich auf den Reiz der Neuheit keinen Anspruch hat. Doch wer verbürgt Ihnen, daß das harmlos Gesagte heute ebenso harmlos aufgenom¬ men wird?" Noch einmal geht Treitschke die wesentlichen Gedanken und Ergebnisse feiner letzten Schrift mit dem Gegner durch. „Ich versuchte, aus der Natur der Gesellschaft zu erkennen, welche Grenzen die sociale Bewegung niemals überschreiten kann. Sie »erachten solche Erörterungen der Grundbegriffe als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/516>, abgerufen am 06.02.2025.