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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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in der Fülle des reichsten Humors. Wie Reuter mit dem Inspektor Knitschky
ein altes unterirdisches Klostergewölbe entdeckt und hier einem Mönchsgerippe
das die Urgeschichte Mecklenburgs enthaltende Manuscript raubt, wird zusam¬
men mit vielen anziehenden Episoden erzählt, und nicht minder ergötzlich ist
das klägliche Verschwinden des kostbaren Schriftstückes, welches zu Papierdüten
und zum Einwickeln von Spickgänsen verwendet wird. Reuter erzählt dann
aus der Erinnerung die Geschichte, welche Mecklenburg von der Erschaffung
der Welt bis zum Tode Japhet's schildert. Wirklich genial ist die Persiflage
der deutschen Duodezfürsten, welche sich wie ein rother Faden durch das ganze
Werk zieht. Wie heftig müssen die Narben der Wunden geschmerzt haben,
welche ihm Bosheit und Unverstand in jenen Jahren geschlagen hat! Aus
den einzelnen Erzählungen, welche scheinbar die übermüthigste Ausgelassenheit
in tollster Laune geschrieben hat, zuckt wie ein feuriger Blitz der Hohn
über die damalige Erbärmlichkeit unseres Vaterlandes. In diesen Kindern
heiterster Laune lebt zugleich ein Ernst des politischen Pathos, welcher an
"Ut mine Festungstid" erinnert. Namentlich ist Japhet, der Typus des un¬
fähigen, dumm stolzen Absolutismus, eine köstliche Figur. Aber Reuter zeigt
auch, daß der Humor nicht einseitig ist. sondern überall Licht und Schatten
gleichmäßig zu vertheilen weiß, indem er nicht minder der urtheilslosen Menge
die derbsten Nackenschläge der Satire austheilt.

Die "Briefe des Herrn Inspektor Bräsig" wurden 185S und 56 ge¬
schrieben, wo sie in "Reuter's Unterhaltungsblatt für Mecklenburg und Vor¬
pommern" erschienen. Ohne die Bedeutung der erwähnten Dichtungen zu
erreichen, bieten sie doch hübsche Muster jener holländischen Kleinmalerei, in
welcher Reuter so groß ist. Es sind Prosa-Läuschen von liebenswürdiger
Komik. Wenn man erfährt, wie dem trefflichen Inspektor Bräsig aus Mi߬
verständniß der letzte Zahn ausgezogen wird, oder von der göttlichen Dumm¬
heit seines "Schwestertochtersohnes" Körling liest, so will die Erinnerung
daran nur schwer aus dem Kopfe. "Die Reise nach Braunschweig", das
erste schriftstellerische Unternehmen des elfjährigen Fritz Reuter, zeigt eine
seltene Frühreife, namentlich nach der Seite des Humors, und die beiden Ge¬
dichte "Ob'ne lütte Gaw för Dütschland" und "Großmütting, hei is dod!"
sind poetische Blüthen, hervorgerufen durch die große Zeit der Jahre 1870 .
und 7l. Sie zeigen den ganzen Ernst der großen Zeit und sind an dieser
Stelle gewiß sehr willkommen.

Wenn es gestattet ist, von dem ersten Bande einen Schluß auf den
hoffentlich recht bald zu erwartenden zweiten zuziehen, so ist der Nachlaß Fritz
Reuter's würdig neben das Beste gestellt zu werden, was wir der Muse des
Eugen Zabel. Dichters verdanken.




in der Fülle des reichsten Humors. Wie Reuter mit dem Inspektor Knitschky
ein altes unterirdisches Klostergewölbe entdeckt und hier einem Mönchsgerippe
das die Urgeschichte Mecklenburgs enthaltende Manuscript raubt, wird zusam¬
men mit vielen anziehenden Episoden erzählt, und nicht minder ergötzlich ist
das klägliche Verschwinden des kostbaren Schriftstückes, welches zu Papierdüten
und zum Einwickeln von Spickgänsen verwendet wird. Reuter erzählt dann
aus der Erinnerung die Geschichte, welche Mecklenburg von der Erschaffung
der Welt bis zum Tode Japhet's schildert. Wirklich genial ist die Persiflage
der deutschen Duodezfürsten, welche sich wie ein rother Faden durch das ganze
Werk zieht. Wie heftig müssen die Narben der Wunden geschmerzt haben,
welche ihm Bosheit und Unverstand in jenen Jahren geschlagen hat! Aus
den einzelnen Erzählungen, welche scheinbar die übermüthigste Ausgelassenheit
in tollster Laune geschrieben hat, zuckt wie ein feuriger Blitz der Hohn
über die damalige Erbärmlichkeit unseres Vaterlandes. In diesen Kindern
heiterster Laune lebt zugleich ein Ernst des politischen Pathos, welcher an
„Ut mine Festungstid" erinnert. Namentlich ist Japhet, der Typus des un¬
fähigen, dumm stolzen Absolutismus, eine köstliche Figur. Aber Reuter zeigt
auch, daß der Humor nicht einseitig ist. sondern überall Licht und Schatten
gleichmäßig zu vertheilen weiß, indem er nicht minder der urtheilslosen Menge
die derbsten Nackenschläge der Satire austheilt.

Die „Briefe des Herrn Inspektor Bräsig" wurden 185S und 56 ge¬
schrieben, wo sie in „Reuter's Unterhaltungsblatt für Mecklenburg und Vor¬
pommern" erschienen. Ohne die Bedeutung der erwähnten Dichtungen zu
erreichen, bieten sie doch hübsche Muster jener holländischen Kleinmalerei, in
welcher Reuter so groß ist. Es sind Prosa-Läuschen von liebenswürdiger
Komik. Wenn man erfährt, wie dem trefflichen Inspektor Bräsig aus Mi߬
verständniß der letzte Zahn ausgezogen wird, oder von der göttlichen Dumm¬
heit seines „Schwestertochtersohnes" Körling liest, so will die Erinnerung
daran nur schwer aus dem Kopfe. „Die Reise nach Braunschweig", das
erste schriftstellerische Unternehmen des elfjährigen Fritz Reuter, zeigt eine
seltene Frühreife, namentlich nach der Seite des Humors, und die beiden Ge¬
dichte „Ob'ne lütte Gaw för Dütschland" und „Großmütting, hei is dod!"
sind poetische Blüthen, hervorgerufen durch die große Zeit der Jahre 1870 .
und 7l. Sie zeigen den ganzen Ernst der großen Zeit und sind an dieser
Stelle gewiß sehr willkommen.

Wenn es gestattet ist, von dem ersten Bande einen Schluß auf den
hoffentlich recht bald zu erwartenden zweiten zuziehen, so ist der Nachlaß Fritz
Reuter's würdig neben das Beste gestellt zu werden, was wir der Muse des
Eugen Zabel. Dichters verdanken.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/442>, abgerufen am 06.02.2025.