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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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mit denen sich die größte Energie nur allzuoft vergeblich gemessen hat. --
Die Wahrheit dieses Satzes wird vorzüglich verdeutlicht durch die Geschichte
der Minderjährigkeit Charles' VIII. Scheinbar werden in dieser Zeit alle
Errungenschaften der französischen Krone in Frage gestellt; aber jene Anfech¬
tungen sind vergeblich; selbständiger und stärker als je geht das Königthum
aus ihnen hervor.*)

Charles VIII. war ein vierzehnjähriger schwächlicher Knabe als er zur Re¬
gierung kam, und es versteht sich von selbst, daß der Tod eines Despoten,
wie Louis XI. gewesen, das Signal zu tiefen inneren Bewegungen gab. Wie
einst bei dem Hingang Philipp's des Schönen machte sich die Entrüstung der
französischen Nation Luft in der allgemeinen Verdammung des Regierungs¬
systems des verstorbenen Königs: der hohe Adel verlangte die Zurückgabe
seiner Rechte und aller eingezogenen Lehne, das Parlament die Herstellung
legaler Justiz und des Steuerbewilligungsrechtes, Stadt und Land die Ab¬
schaffung der drückenden Taille und der Militärlast. Um die Vormundschaft
des Königs stritten sich die Bourbons und die Orleans, und wenn es auch
der Vertreterin der Bourbons, der ältesten Schwester des Königs, der klugen
und schönen Anna von Beaujeu, gelang, thatsächlich Regentin zu werden,
so erwiesen sich doch die Schwierigkeiten, zumal in der Frage des Armee¬
budgets, ganz außerordentlich groß.

Die Baillages des Nordens und die Senechausse's des Südens hatten
alle gleichlaut und heftig eine Versammlung der G eneraIst aat e n gefordert,
und wirklich traten im Februar 1484 die Vertreter des Adels, des Klerus,
der Bürgerschaften und der freien Bauern in Tours zusammen, und es be¬
gannen jene stürmischen Sitzungen, über welche Bernier's Publication des
^ourng.1 ä"g 6kath g^moraux ac I'ranee derus Z. lours on 1484 in der (üol-
leetivn ach äoeuments illväits so interessantes Licht verbreitet hat.**) Am
lebhaftesten waren die Verhandlungen über das Budget und den LLrviev
militairo.

Da Louis XI. keinen namhaften Krieg geführt, so sah man mit her¬
gebrachter Kurzsichtigkeit das von ihm geschaffene Heer viel mehr als ein Werk¬
zeug zur Chicane als für ein Vertheidigungsmittel an; während man sich




*) Außer den großen italienischen Geschichtsschreibern Guicciardini und Giovo, außer
Co min es'Memoiren und Sismondi's berühmtem Werk sind speziell für die Geschichte Char¬
les' VIII. wichtig: Desre?, Vi^nctss vnroui<ius8 ä"z trof-vtirest. ro? vnarles VIII. ?Alis 1510.
a<z ZZelkoi'LKt, Ilistoiis usf veut vlisrlss. I>aris 15ki8.
V-u'ni-rs, Ilistoiro So VKsrlös VIII. I>g,ris 1VS1.' von Ranke, Geschichte der roman. und german. Völker von 1494 bis 1514. Lpzg. 1824.
<lo SöZur, Ilistoiro us OKarlks VIII. ?ar!s 1838.
Es ist das eine 1835 erschienene Uebersetzung des lateinischen Onginalwcrkes von
Jehan Masselin, Deputirten der Vaillage de Rouen.

mit denen sich die größte Energie nur allzuoft vergeblich gemessen hat. —
Die Wahrheit dieses Satzes wird vorzüglich verdeutlicht durch die Geschichte
der Minderjährigkeit Charles' VIII. Scheinbar werden in dieser Zeit alle
Errungenschaften der französischen Krone in Frage gestellt; aber jene Anfech¬
tungen sind vergeblich; selbständiger und stärker als je geht das Königthum
aus ihnen hervor.*)

Charles VIII. war ein vierzehnjähriger schwächlicher Knabe als er zur Re¬
gierung kam, und es versteht sich von selbst, daß der Tod eines Despoten,
wie Louis XI. gewesen, das Signal zu tiefen inneren Bewegungen gab. Wie
einst bei dem Hingang Philipp's des Schönen machte sich die Entrüstung der
französischen Nation Luft in der allgemeinen Verdammung des Regierungs¬
systems des verstorbenen Königs: der hohe Adel verlangte die Zurückgabe
seiner Rechte und aller eingezogenen Lehne, das Parlament die Herstellung
legaler Justiz und des Steuerbewilligungsrechtes, Stadt und Land die Ab¬
schaffung der drückenden Taille und der Militärlast. Um die Vormundschaft
des Königs stritten sich die Bourbons und die Orleans, und wenn es auch
der Vertreterin der Bourbons, der ältesten Schwester des Königs, der klugen
und schönen Anna von Beaujeu, gelang, thatsächlich Regentin zu werden,
so erwiesen sich doch die Schwierigkeiten, zumal in der Frage des Armee¬
budgets, ganz außerordentlich groß.

Die Baillages des Nordens und die Senechausse's des Südens hatten
alle gleichlaut und heftig eine Versammlung der G eneraIst aat e n gefordert,
und wirklich traten im Februar 1484 die Vertreter des Adels, des Klerus,
der Bürgerschaften und der freien Bauern in Tours zusammen, und es be¬
gannen jene stürmischen Sitzungen, über welche Bernier's Publication des
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leetivn ach äoeuments illväits so interessantes Licht verbreitet hat.**) Am
lebhaftesten waren die Verhandlungen über das Budget und den LLrviev
militairo.

Da Louis XI. keinen namhaften Krieg geführt, so sah man mit her¬
gebrachter Kurzsichtigkeit das von ihm geschaffene Heer viel mehr als ein Werk¬
zeug zur Chicane als für ein Vertheidigungsmittel an; während man sich




*) Außer den großen italienischen Geschichtsschreibern Guicciardini und Giovo, außer
Co min es'Memoiren und Sismondi's berühmtem Werk sind speziell für die Geschichte Char¬
les' VIII. wichtig: Desre?, Vi^nctss vnroui<ius8 ä«z trof-vtirest. ro? vnarles VIII. ?Alis 1510.
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V-u'ni-rs, Ilistoiro So VKsrlös VIII. I>g,ris 1VS1.' von Ranke, Geschichte der roman. und german. Völker von 1494 bis 1514. Lpzg. 1824.
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[0326] mit denen sich die größte Energie nur allzuoft vergeblich gemessen hat. — Die Wahrheit dieses Satzes wird vorzüglich verdeutlicht durch die Geschichte der Minderjährigkeit Charles' VIII. Scheinbar werden in dieser Zeit alle Errungenschaften der französischen Krone in Frage gestellt; aber jene Anfech¬ tungen sind vergeblich; selbständiger und stärker als je geht das Königthum aus ihnen hervor.*) Charles VIII. war ein vierzehnjähriger schwächlicher Knabe als er zur Re¬ gierung kam, und es versteht sich von selbst, daß der Tod eines Despoten, wie Louis XI. gewesen, das Signal zu tiefen inneren Bewegungen gab. Wie einst bei dem Hingang Philipp's des Schönen machte sich die Entrüstung der französischen Nation Luft in der allgemeinen Verdammung des Regierungs¬ systems des verstorbenen Königs: der hohe Adel verlangte die Zurückgabe seiner Rechte und aller eingezogenen Lehne, das Parlament die Herstellung legaler Justiz und des Steuerbewilligungsrechtes, Stadt und Land die Ab¬ schaffung der drückenden Taille und der Militärlast. Um die Vormundschaft des Königs stritten sich die Bourbons und die Orleans, und wenn es auch der Vertreterin der Bourbons, der ältesten Schwester des Königs, der klugen und schönen Anna von Beaujeu, gelang, thatsächlich Regentin zu werden, so erwiesen sich doch die Schwierigkeiten, zumal in der Frage des Armee¬ budgets, ganz außerordentlich groß. Die Baillages des Nordens und die Senechausse's des Südens hatten alle gleichlaut und heftig eine Versammlung der G eneraIst aat e n gefordert, und wirklich traten im Februar 1484 die Vertreter des Adels, des Klerus, der Bürgerschaften und der freien Bauern in Tours zusammen, und es be¬ gannen jene stürmischen Sitzungen, über welche Bernier's Publication des ^ourng.1 ä«g 6kath g^moraux ac I'ranee derus Z. lours on 1484 in der (üol- leetivn ach äoeuments illväits so interessantes Licht verbreitet hat.**) Am lebhaftesten waren die Verhandlungen über das Budget und den LLrviev militairo. Da Louis XI. keinen namhaften Krieg geführt, so sah man mit her¬ gebrachter Kurzsichtigkeit das von ihm geschaffene Heer viel mehr als ein Werk¬ zeug zur Chicane als für ein Vertheidigungsmittel an; während man sich *) Außer den großen italienischen Geschichtsschreibern Guicciardini und Giovo, außer Co min es'Memoiren und Sismondi's berühmtem Werk sind speziell für die Geschichte Char¬ les' VIII. wichtig: Desre?, Vi^nctss vnroui<ius8 ä«z trof-vtirest. ro? vnarles VIII. ?Alis 1510. a<z ZZelkoi'LKt, Ilistoiis usf veut vlisrlss. I>aris 15ki8. V-u'ni-rs, Ilistoiro So VKsrlös VIII. I>g,ris 1VS1.' von Ranke, Geschichte der roman. und german. Völker von 1494 bis 1514. Lpzg. 1824. <lo SöZur, Ilistoiro us OKarlks VIII. ?ar!s 1838. Es ist das eine 1835 erschienene Uebersetzung des lateinischen Onginalwcrkes von Jehan Masselin, Deputirten der Vaillage de Rouen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/326>, abgerufen am 06.02.2025.