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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Geistes ärmer. Denn diese Metamorphosen, welche, was nur die schöpferische
Phantasie der Griechen an Verwandlungen von Menschen in Thiere, Pflanzen
u. s. w. ersonnen hatte, in spielender Leichtigkeit an einen bald durch Zufall,
bald durch Laune, bald durch geistreiche Combination geknüpften Faden reihte,
überwogen durch Reichthum der Erfindung und das harmonische Zusammen¬
spiel aller dichterischen Vorzüge, soweit diese an einem nicht durch Tiefe
sondern durch behagliche Breite und bunte Mannigfaltigkeit ausgezeichneten
Stoffe sich geltend machen können, sämmtliche Erzeugnisse der römischen
Literatur, trotzdem daß ihnen die letzte Feile fehlt. Literarisch merkwürdig
sind sie dadurch, daß in ihnen, aus römischem Gebiet (die griechischen
Vorbilder Ovid's können wahrscheinlich für Griechenland denselben und zwar
den älteren Anspruch erheben, obschon ihnen die in jeder Beziehung bemerkens¬
werthe Xenophontische Chropädie den Rang abläuft) die ersten Ansätze des
Romans sich finden, derjenigen Gattung, welche unserem Jahrhundert die
Signatur verleiht und ohne welche es beinahe unmöglich wird, sich in der Li¬
teratur einen Namen zu machen.

Von dem bekannten italienischen Patrioten und Dichter Silvio Pelileo, der
unter dem "guten Kaiser Franz" zehn Jahre seines Lebens als Staatsgefan¬
gener auf dem Spielberg zubrachte, ist bekannt, daß er in der Nacht seines
Kerkers Tragödien -- nicht schrieb, denn seine fürstlichen Quäler verweigerten
ihm die Wohlthat des Schreibmaterials -- sondern blos mit Hülfe seines Gedächt¬
nisses innerlich componirte und sie nach seiner endlichen Erlösung niederschrieb.
Die Chancen seiner Hoffnung waren mindestens eben so gering wie die seines
römischen Collegen vor achtzehnhundert Jahren, sein körperlicher Zustand, in
welchem Ketten, langjährige Einzelhaft, Mangel an Licht und Luft wahrhaft
entsetzliche Begleiter sind, war ohne Vergleich qualvoller als der Ovid's --
und Ovid's Wille sammt seiner Kraft versiegt; weder schrieb noch memorirte er
Tragödien, obschon seine früheren Versuche auf diesem Felde vom glänzendsten
Erfolge begleitet gewesen waren. Der Verlust seiner Medea. die aber kaum
das einzige Erzeugniß seiner dramatischen Thätigkeit ist, berührt den Freund
und Kenner der römischen Literatur schmerzlich -- jene Tragödie wäre nicht
blos die einzige Repräsentantin ihrer Gattung, sondern, trotz Quintilian's
theilweisem Tadel, eine der vorzüglichsten gewesen. Wenn Vermuthungen ersprie߬
lich, oder auch nur erlaubt wären, so dürfte jene Tragödie durch Glanz der Dic-
tion, Reichthum der dichterischen Motive und durch hohes, allerdings auch
rhetorisches, nicht blos dichterisches Pathos ausgezeichnet gewesen sein.

Ihm fehlte aber, was der weniger begabte Silvio in hohem Grade be¬
saß, der Ernst einer sittlichen Lebensauffassung, welche die Himmelsgabe der
Poesie dankbar als einen Spiegel entgegennimmt, in welchem sie die Aus-


Grenjbotm II. 1L7S. 38

Geistes ärmer. Denn diese Metamorphosen, welche, was nur die schöpferische
Phantasie der Griechen an Verwandlungen von Menschen in Thiere, Pflanzen
u. s. w. ersonnen hatte, in spielender Leichtigkeit an einen bald durch Zufall,
bald durch Laune, bald durch geistreiche Combination geknüpften Faden reihte,
überwogen durch Reichthum der Erfindung und das harmonische Zusammen¬
spiel aller dichterischen Vorzüge, soweit diese an einem nicht durch Tiefe
sondern durch behagliche Breite und bunte Mannigfaltigkeit ausgezeichneten
Stoffe sich geltend machen können, sämmtliche Erzeugnisse der römischen
Literatur, trotzdem daß ihnen die letzte Feile fehlt. Literarisch merkwürdig
sind sie dadurch, daß in ihnen, aus römischem Gebiet (die griechischen
Vorbilder Ovid's können wahrscheinlich für Griechenland denselben und zwar
den älteren Anspruch erheben, obschon ihnen die in jeder Beziehung bemerkens¬
werthe Xenophontische Chropädie den Rang abläuft) die ersten Ansätze des
Romans sich finden, derjenigen Gattung, welche unserem Jahrhundert die
Signatur verleiht und ohne welche es beinahe unmöglich wird, sich in der Li¬
teratur einen Namen zu machen.

Von dem bekannten italienischen Patrioten und Dichter Silvio Pelileo, der
unter dem „guten Kaiser Franz" zehn Jahre seines Lebens als Staatsgefan¬
gener auf dem Spielberg zubrachte, ist bekannt, daß er in der Nacht seines
Kerkers Tragödien — nicht schrieb, denn seine fürstlichen Quäler verweigerten
ihm die Wohlthat des Schreibmaterials — sondern blos mit Hülfe seines Gedächt¬
nisses innerlich componirte und sie nach seiner endlichen Erlösung niederschrieb.
Die Chancen seiner Hoffnung waren mindestens eben so gering wie die seines
römischen Collegen vor achtzehnhundert Jahren, sein körperlicher Zustand, in
welchem Ketten, langjährige Einzelhaft, Mangel an Licht und Luft wahrhaft
entsetzliche Begleiter sind, war ohne Vergleich qualvoller als der Ovid's —
und Ovid's Wille sammt seiner Kraft versiegt; weder schrieb noch memorirte er
Tragödien, obschon seine früheren Versuche auf diesem Felde vom glänzendsten
Erfolge begleitet gewesen waren. Der Verlust seiner Medea. die aber kaum
das einzige Erzeugniß seiner dramatischen Thätigkeit ist, berührt den Freund
und Kenner der römischen Literatur schmerzlich — jene Tragödie wäre nicht
blos die einzige Repräsentantin ihrer Gattung, sondern, trotz Quintilian's
theilweisem Tadel, eine der vorzüglichsten gewesen. Wenn Vermuthungen ersprie߬
lich, oder auch nur erlaubt wären, so dürfte jene Tragödie durch Glanz der Dic-
tion, Reichthum der dichterischen Motive und durch hohes, allerdings auch
rhetorisches, nicht blos dichterisches Pathos ausgezeichnet gewesen sein.

Ihm fehlte aber, was der weniger begabte Silvio in hohem Grade be¬
saß, der Ernst einer sittlichen Lebensauffassung, welche die Himmelsgabe der
Poesie dankbar als einen Spiegel entgegennimmt, in welchem sie die Aus-


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[0301] Geistes ärmer. Denn diese Metamorphosen, welche, was nur die schöpferische Phantasie der Griechen an Verwandlungen von Menschen in Thiere, Pflanzen u. s. w. ersonnen hatte, in spielender Leichtigkeit an einen bald durch Zufall, bald durch Laune, bald durch geistreiche Combination geknüpften Faden reihte, überwogen durch Reichthum der Erfindung und das harmonische Zusammen¬ spiel aller dichterischen Vorzüge, soweit diese an einem nicht durch Tiefe sondern durch behagliche Breite und bunte Mannigfaltigkeit ausgezeichneten Stoffe sich geltend machen können, sämmtliche Erzeugnisse der römischen Literatur, trotzdem daß ihnen die letzte Feile fehlt. Literarisch merkwürdig sind sie dadurch, daß in ihnen, aus römischem Gebiet (die griechischen Vorbilder Ovid's können wahrscheinlich für Griechenland denselben und zwar den älteren Anspruch erheben, obschon ihnen die in jeder Beziehung bemerkens¬ werthe Xenophontische Chropädie den Rang abläuft) die ersten Ansätze des Romans sich finden, derjenigen Gattung, welche unserem Jahrhundert die Signatur verleiht und ohne welche es beinahe unmöglich wird, sich in der Li¬ teratur einen Namen zu machen. Von dem bekannten italienischen Patrioten und Dichter Silvio Pelileo, der unter dem „guten Kaiser Franz" zehn Jahre seines Lebens als Staatsgefan¬ gener auf dem Spielberg zubrachte, ist bekannt, daß er in der Nacht seines Kerkers Tragödien — nicht schrieb, denn seine fürstlichen Quäler verweigerten ihm die Wohlthat des Schreibmaterials — sondern blos mit Hülfe seines Gedächt¬ nisses innerlich componirte und sie nach seiner endlichen Erlösung niederschrieb. Die Chancen seiner Hoffnung waren mindestens eben so gering wie die seines römischen Collegen vor achtzehnhundert Jahren, sein körperlicher Zustand, in welchem Ketten, langjährige Einzelhaft, Mangel an Licht und Luft wahrhaft entsetzliche Begleiter sind, war ohne Vergleich qualvoller als der Ovid's — und Ovid's Wille sammt seiner Kraft versiegt; weder schrieb noch memorirte er Tragödien, obschon seine früheren Versuche auf diesem Felde vom glänzendsten Erfolge begleitet gewesen waren. Der Verlust seiner Medea. die aber kaum das einzige Erzeugniß seiner dramatischen Thätigkeit ist, berührt den Freund und Kenner der römischen Literatur schmerzlich — jene Tragödie wäre nicht blos die einzige Repräsentantin ihrer Gattung, sondern, trotz Quintilian's theilweisem Tadel, eine der vorzüglichsten gewesen. Wenn Vermuthungen ersprie߬ lich, oder auch nur erlaubt wären, so dürfte jene Tragödie durch Glanz der Dic- tion, Reichthum der dichterischen Motive und durch hohes, allerdings auch rhetorisches, nicht blos dichterisches Pathos ausgezeichnet gewesen sein. Ihm fehlte aber, was der weniger begabte Silvio in hohem Grade be¬ saß, der Ernst einer sittlichen Lebensauffassung, welche die Himmelsgabe der Poesie dankbar als einen Spiegel entgegennimmt, in welchem sie die Aus- Grenjbotm II. 1L7S. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/301>, abgerufen am 06.02.2025.