Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.auf die Nachwelt gekommen. Nur Eines hat er uns mißgönnt zu erfahren In blühender Jugendzeit, als er seine Leyer nur zu den Klängen der Am westlichen Gestade desjenigen Meeres, welches die Alten in bekannter *) Jetzt, wenigstens wahrscheinlich, Anadol Koi, ein kleiner Hafen in der Nahe von Ka¬
stentische (Constcmtia.) auf die Nachwelt gekommen. Nur Eines hat er uns mißgönnt zu erfahren In blühender Jugendzeit, als er seine Leyer nur zu den Klängen der Am westlichen Gestade desjenigen Meeres, welches die Alten in bekannter *) Jetzt, wenigstens wahrscheinlich, Anadol Koi, ein kleiner Hafen in der Nahe von Ka¬
stentische (Constcmtia.) <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133574"/> <p xml:id="ID_908" prev="#ID_907"> auf die Nachwelt gekommen. Nur Eines hat er uns mißgönnt zu erfahren<lb/> — den Grund dieses namenlosen Elends; er kannte ihn und auch die Mit¬<lb/> lebenden kannten ihn, er war auch selbstbewußt genug, um sicher auf das<lb/> Gedächtniß der spätesten Nachwelt zu rechnen; wollte er sie vielleicht durch<lb/> Schweigen strafen für ein Gefühl, welches viel weniger Mitleid, als — Neu¬<lb/> gierde ist?</p><lb/> <p xml:id="ID_909"> In blühender Jugendzeit, als er seine Leyer nur zu den Klängen der<lb/> Liebe stimmte, sang er einmal aus der Heimat seinem Mädchen die Worte<lb/> zu: „wenn sie nicht in seiner Nähe sei, so komme es ihm vor, als athme er<lb/> nicht die gesunde Luft seiner Heimat, sondern als wohne er bei den Scythen<lb/> und am unwirthlichen Kaukasus." Wer ihm damals gesagt hätte, daß er<lb/> wirklich in jenen von ihm verabscheuten Zonen einst den Rest seines Lebens<lb/> als Ausgestoßener zubringen werde?</p><lb/> <p xml:id="ID_910" next="#ID_911"> Am westlichen Gestade desjenigen Meeres, welches die Alten in bekannter<lb/> zarter Scheu vor Unglücksnamen das „gastliche" nannten, während sie es<lb/> in Wirklichkeit als das Gegentheil, als das „ungastliche", kannten, südlich<lb/> den Donaumündungen lag der Ort, welchen das Machtgebot des erzürnten<lb/> Herrschers dem Dichter angewiesen hatte. — Tomi hieß der Ort *), Ovid der<lb/> unglückliche Verbannte und dem Ruhme dieses Verbannten verdankt der<lb/> sonst völlig unbedeutende Flecken sein Andenken bet der Nachwelt. Wäre<lb/> auch die Schuld des Dichters größer, als sie in der That ist (daß sie kein<lb/> Verbrechen war, wissen wir), so könnten wir seinem Trauergeschick unser Mit¬<lb/> leid nicht versagen. Er strömt seine Klagen in Versen aus, weil unter seinen<lb/> kunstgeübten Fingern alles, was er ergriff, diese Form annahm (wie er selbst<lb/> erzählt); selbst die natürlichsten, ursprünglichsten Ausbrüche des Leides und<lb/> der Seelenqual, die sonst jedes Maaßes spotten, mußten sich jener Form<lb/> fügen; sie sind natürlich bloß auf einen Grundton gestimmt und auch die<lb/> Variationen, welche ihn beglücken und umspielen, tragen denselben düstern<lb/> monotonen Charakter; aber wenn auch unser künstlerisches Gefühl von dieser<lb/> Einförmigkeit wenig befriedigt wird, so macht sie einen um so tieferen, ja<lb/> schaurigeren Eindruck auf unsere Seele, denn sie ist nicht bloß das treue Bild<lb/> einer zunehmenden Seelenveränderung und Verdüsterung, sondern sie spiegelt<lb/> auch den traurig öden Charakter jener Gegend, jenes antiken Sibiriens, wieder.<lb/> Mag sein, daß dem Dichter alles noch unheimlicher vorkam als es wirklich<lb/> war, daß er grau in grau malte, wenn er die Schrecken des dortigen Winters<lb/> schildert, aber einem im Schooße der üppigen Weltstadt erzogenen und ver¬<lb/> zogenen Weltleute mußte jene ungesellige und unwirthliche Gegend wie ein<lb/> wirkliches Sibirien erscheinen; dem Italiener mußte schon das rauhe Klima</p><lb/> <note xml:id="FID_35" place="foot"> *) Jetzt, wenigstens wahrscheinlich, Anadol Koi, ein kleiner Hafen in der Nahe von Ka¬<lb/> stentische (Constcmtia.)</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
auf die Nachwelt gekommen. Nur Eines hat er uns mißgönnt zu erfahren
— den Grund dieses namenlosen Elends; er kannte ihn und auch die Mit¬
lebenden kannten ihn, er war auch selbstbewußt genug, um sicher auf das
Gedächtniß der spätesten Nachwelt zu rechnen; wollte er sie vielleicht durch
Schweigen strafen für ein Gefühl, welches viel weniger Mitleid, als — Neu¬
gierde ist?
In blühender Jugendzeit, als er seine Leyer nur zu den Klängen der
Liebe stimmte, sang er einmal aus der Heimat seinem Mädchen die Worte
zu: „wenn sie nicht in seiner Nähe sei, so komme es ihm vor, als athme er
nicht die gesunde Luft seiner Heimat, sondern als wohne er bei den Scythen
und am unwirthlichen Kaukasus." Wer ihm damals gesagt hätte, daß er
wirklich in jenen von ihm verabscheuten Zonen einst den Rest seines Lebens
als Ausgestoßener zubringen werde?
Am westlichen Gestade desjenigen Meeres, welches die Alten in bekannter
zarter Scheu vor Unglücksnamen das „gastliche" nannten, während sie es
in Wirklichkeit als das Gegentheil, als das „ungastliche", kannten, südlich
den Donaumündungen lag der Ort, welchen das Machtgebot des erzürnten
Herrschers dem Dichter angewiesen hatte. — Tomi hieß der Ort *), Ovid der
unglückliche Verbannte und dem Ruhme dieses Verbannten verdankt der
sonst völlig unbedeutende Flecken sein Andenken bet der Nachwelt. Wäre
auch die Schuld des Dichters größer, als sie in der That ist (daß sie kein
Verbrechen war, wissen wir), so könnten wir seinem Trauergeschick unser Mit¬
leid nicht versagen. Er strömt seine Klagen in Versen aus, weil unter seinen
kunstgeübten Fingern alles, was er ergriff, diese Form annahm (wie er selbst
erzählt); selbst die natürlichsten, ursprünglichsten Ausbrüche des Leides und
der Seelenqual, die sonst jedes Maaßes spotten, mußten sich jener Form
fügen; sie sind natürlich bloß auf einen Grundton gestimmt und auch die
Variationen, welche ihn beglücken und umspielen, tragen denselben düstern
monotonen Charakter; aber wenn auch unser künstlerisches Gefühl von dieser
Einförmigkeit wenig befriedigt wird, so macht sie einen um so tieferen, ja
schaurigeren Eindruck auf unsere Seele, denn sie ist nicht bloß das treue Bild
einer zunehmenden Seelenveränderung und Verdüsterung, sondern sie spiegelt
auch den traurig öden Charakter jener Gegend, jenes antiken Sibiriens, wieder.
Mag sein, daß dem Dichter alles noch unheimlicher vorkam als es wirklich
war, daß er grau in grau malte, wenn er die Schrecken des dortigen Winters
schildert, aber einem im Schooße der üppigen Weltstadt erzogenen und ver¬
zogenen Weltleute mußte jene ungesellige und unwirthliche Gegend wie ein
wirkliches Sibirien erscheinen; dem Italiener mußte schon das rauhe Klima
*) Jetzt, wenigstens wahrscheinlich, Anadol Koi, ein kleiner Hafen in der Nahe von Ka¬
stentische (Constcmtia.)
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