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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Caesar bis zum heutigen Tage immer von denjenigen Leitern deutscher
Schaubühnen mit Vorliebe auf das Repertoire gesetzt worden, welche in dem
Ensemble aller ihrer ausübenden Kräfte -- in der Beherrschung der hoch¬
fliegenden Ansprüche ihrer vorzüglichsten Mimen, wie in der Erwärmung des
spröden Mittelgutes oder noch geringeren Materials -- ihre Meisterschaft
bekundeten. Denn, wie gesagt, kaum ein anderes Stück erfordert soviel Hin¬
gebung jedes Einzelnen an das Ganze. Fast jede der höheren Rollen kommt
in gleichem Maße zur Geltung. Der Träger der Titelrolle wird sogar noch
mehr gehoben durch das historische Bewußtsein des Zuschauers, als durch das
Werk des Dichters und verschwindet schon im dritten Act. Alle übrigen
treten nur in einzelnen Scenen oder Acten besonders leuchtend hervor und
überlassen dann Andern die leitende Rolle. Ja, für manche erlauchte Namen,
die der Dichter in sein Personenregister aufnahm, wird man auch an volk¬
reichen Bühnen kaum einen ausreichend würdevollen Statisten finden: so für
Cicero, der bei Shakespeare eine geradezu klägliche Figur spielt.

Ein anderer Grund der großen Popularität des Shakespeare'schen
Julius Caesar in Deutschland ist wohl die allgemeine Vertrautheit unsres
Volkes mit dem historischen Hintergrunde des Stückes. Bis zu Julius Cae¬
sar's Schriften, auch über den Bürgerkrieg und bis zu den Briefen des Ci¬
cero an Atticus und seine Philippischen Reden -- die zusammen das beste histo¬
rische Urtheil der Zeitgenossen und die Hauptquelle bilden für die Entwicke¬
lung der öffentlichen Verhältnisse und Ereignisse, welche hier dramatisch zum
Austrag kommen und für die Motive der handelnden Personen -- bis zu diesen
Quellenwerken gelangt die große Mehrzahl unsrer Jugend einmal wenigstens
in ihrem Studium, auch wenn ein großer Theil derselben später zu "reale¬
ren" Fächern übergeht. Aber grade hier, bei Aufzählung und Prüfung der
geschichtlichen Quellen drängt sich uns die Frage auf: ist denn der "Julius
Caesar" Shakespeare's auch nur annähernd ein Spiegelbild der Geschichte,
oder Ideen, welche den Untergang des Imperators, und dann wieder seiner
Mörder herbeiführten? Sind die handelnden Charaktere in der Hauptsache
mit historischer Treue gezeichnet?

Um dem Dichter gerecht zu sein, muß hervorgehoben werden, daß er
einen großen Theil der Quellen nicht kannte, welche uns heute zu Gebote
stehen, und daß er Manches, was seiner Zeit verhüllt war, mit congenialer
Ahnungs- und Schöpferkraft ersetzte. Aber mit derselben Genialität hat er
sich über eine Reihe auch seiner Zeit bekannter Thatsachen hinweggesetzt. Wer,
wie der Verfasser dieser Zeilen, mehr als einmal nach der genauen, frischen
Lectüre der Quellen Shakespeare's Julius Caesar las, wird Scene für Scene
und Charakter für Charakter die Disharmonie mit der Wirklichkeit als den
schwersten Fehler des großartigen Werkes erkennen. Man kann dabei noch


Caesar bis zum heutigen Tage immer von denjenigen Leitern deutscher
Schaubühnen mit Vorliebe auf das Repertoire gesetzt worden, welche in dem
Ensemble aller ihrer ausübenden Kräfte — in der Beherrschung der hoch¬
fliegenden Ansprüche ihrer vorzüglichsten Mimen, wie in der Erwärmung des
spröden Mittelgutes oder noch geringeren Materials — ihre Meisterschaft
bekundeten. Denn, wie gesagt, kaum ein anderes Stück erfordert soviel Hin¬
gebung jedes Einzelnen an das Ganze. Fast jede der höheren Rollen kommt
in gleichem Maße zur Geltung. Der Träger der Titelrolle wird sogar noch
mehr gehoben durch das historische Bewußtsein des Zuschauers, als durch das
Werk des Dichters und verschwindet schon im dritten Act. Alle übrigen
treten nur in einzelnen Scenen oder Acten besonders leuchtend hervor und
überlassen dann Andern die leitende Rolle. Ja, für manche erlauchte Namen,
die der Dichter in sein Personenregister aufnahm, wird man auch an volk¬
reichen Bühnen kaum einen ausreichend würdevollen Statisten finden: so für
Cicero, der bei Shakespeare eine geradezu klägliche Figur spielt.

Ein anderer Grund der großen Popularität des Shakespeare'schen
Julius Caesar in Deutschland ist wohl die allgemeine Vertrautheit unsres
Volkes mit dem historischen Hintergrunde des Stückes. Bis zu Julius Cae¬
sar's Schriften, auch über den Bürgerkrieg und bis zu den Briefen des Ci¬
cero an Atticus und seine Philippischen Reden — die zusammen das beste histo¬
rische Urtheil der Zeitgenossen und die Hauptquelle bilden für die Entwicke¬
lung der öffentlichen Verhältnisse und Ereignisse, welche hier dramatisch zum
Austrag kommen und für die Motive der handelnden Personen — bis zu diesen
Quellenwerken gelangt die große Mehrzahl unsrer Jugend einmal wenigstens
in ihrem Studium, auch wenn ein großer Theil derselben später zu „reale¬
ren" Fächern übergeht. Aber grade hier, bei Aufzählung und Prüfung der
geschichtlichen Quellen drängt sich uns die Frage auf: ist denn der „Julius
Caesar" Shakespeare's auch nur annähernd ein Spiegelbild der Geschichte,
oder Ideen, welche den Untergang des Imperators, und dann wieder seiner
Mörder herbeiführten? Sind die handelnden Charaktere in der Hauptsache
mit historischer Treue gezeichnet?

Um dem Dichter gerecht zu sein, muß hervorgehoben werden, daß er
einen großen Theil der Quellen nicht kannte, welche uns heute zu Gebote
stehen, und daß er Manches, was seiner Zeit verhüllt war, mit congenialer
Ahnungs- und Schöpferkraft ersetzte. Aber mit derselben Genialität hat er
sich über eine Reihe auch seiner Zeit bekannter Thatsachen hinweggesetzt. Wer,
wie der Verfasser dieser Zeilen, mehr als einmal nach der genauen, frischen
Lectüre der Quellen Shakespeare's Julius Caesar las, wird Scene für Scene
und Charakter für Charakter die Disharmonie mit der Wirklichkeit als den
schwersten Fehler des großartigen Werkes erkennen. Man kann dabei noch


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[0246] Caesar bis zum heutigen Tage immer von denjenigen Leitern deutscher Schaubühnen mit Vorliebe auf das Repertoire gesetzt worden, welche in dem Ensemble aller ihrer ausübenden Kräfte — in der Beherrschung der hoch¬ fliegenden Ansprüche ihrer vorzüglichsten Mimen, wie in der Erwärmung des spröden Mittelgutes oder noch geringeren Materials — ihre Meisterschaft bekundeten. Denn, wie gesagt, kaum ein anderes Stück erfordert soviel Hin¬ gebung jedes Einzelnen an das Ganze. Fast jede der höheren Rollen kommt in gleichem Maße zur Geltung. Der Träger der Titelrolle wird sogar noch mehr gehoben durch das historische Bewußtsein des Zuschauers, als durch das Werk des Dichters und verschwindet schon im dritten Act. Alle übrigen treten nur in einzelnen Scenen oder Acten besonders leuchtend hervor und überlassen dann Andern die leitende Rolle. Ja, für manche erlauchte Namen, die der Dichter in sein Personenregister aufnahm, wird man auch an volk¬ reichen Bühnen kaum einen ausreichend würdevollen Statisten finden: so für Cicero, der bei Shakespeare eine geradezu klägliche Figur spielt. Ein anderer Grund der großen Popularität des Shakespeare'schen Julius Caesar in Deutschland ist wohl die allgemeine Vertrautheit unsres Volkes mit dem historischen Hintergrunde des Stückes. Bis zu Julius Cae¬ sar's Schriften, auch über den Bürgerkrieg und bis zu den Briefen des Ci¬ cero an Atticus und seine Philippischen Reden — die zusammen das beste histo¬ rische Urtheil der Zeitgenossen und die Hauptquelle bilden für die Entwicke¬ lung der öffentlichen Verhältnisse und Ereignisse, welche hier dramatisch zum Austrag kommen und für die Motive der handelnden Personen — bis zu diesen Quellenwerken gelangt die große Mehrzahl unsrer Jugend einmal wenigstens in ihrem Studium, auch wenn ein großer Theil derselben später zu „reale¬ ren" Fächern übergeht. Aber grade hier, bei Aufzählung und Prüfung der geschichtlichen Quellen drängt sich uns die Frage auf: ist denn der „Julius Caesar" Shakespeare's auch nur annähernd ein Spiegelbild der Geschichte, oder Ideen, welche den Untergang des Imperators, und dann wieder seiner Mörder herbeiführten? Sind die handelnden Charaktere in der Hauptsache mit historischer Treue gezeichnet? Um dem Dichter gerecht zu sein, muß hervorgehoben werden, daß er einen großen Theil der Quellen nicht kannte, welche uns heute zu Gebote stehen, und daß er Manches, was seiner Zeit verhüllt war, mit congenialer Ahnungs- und Schöpferkraft ersetzte. Aber mit derselben Genialität hat er sich über eine Reihe auch seiner Zeit bekannter Thatsachen hinweggesetzt. Wer, wie der Verfasser dieser Zeilen, mehr als einmal nach der genauen, frischen Lectüre der Quellen Shakespeare's Julius Caesar las, wird Scene für Scene und Charakter für Charakter die Disharmonie mit der Wirklichkeit als den schwersten Fehler des großartigen Werkes erkennen. Man kann dabei noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/246>, abgerufen am 05.02.2025.