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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Der erste behandelt die altdeutschen Formen, der zweite und dritte die grie¬
chischen, der vierte die italienischen und spanischen; daran schließen sich im
fünften und sechsten Capitel die dramatischen Jamben, und im siebenten "die
deutsche Ballade" ; der achte Abend umfaßt Didaktisches und Elegisches, der
neunte bringt Schiller'sche Balladen, der zehnte das deutsche Lied und
Schiller's Glocke, der elfte "Neuere Balladen und erzählende Gedichte",
der zwölfte endlich "Verschiedene Formen". Man sieht sofort, daß in
dieser Gruppirung eine Confusion ganz verschiedener Gesichtspunkte vor¬
gegangen ist. Darüber ist sich auch der Verfasser vollkommen klar; um
so unbegreiflicher ist es, wie er sich dabei hat beruhigen können. Noch
ärger aber ist folgendes. In diesen zwölf Abenden sind nicht bloß eine
lange Reihe der bekanntesten deutschen Gedichte, die in allen Gedichtsamm¬
lungen für Schulen stehen und die jeder, der eine höhere Bildungsanstalt be¬
sucht hat, aus seiner Schulzeit zum großen Theil auswendig weiß, sondern
auch bogenlange Ausschnitte aus den bekanntesten deutschen Dramen (Nathan,
Carlos, Iphigenie, Tell), wörtlich abgedruckt. Von den 440 Seiten, aus
denen das Buch besteht, sind netto 300 mit Dichtungen bedruckt, 22 sind,
da jeder "poetische Abend" wieder sein besonderes Titelblatt hat, an Titel¬
blätter und Inhaltsverzeichnisse verschwendet, 24 sind ganz leer, und nur
der Rest wird durch den Text von Gene'e gefüllt! Das ist denn doch eine
Buchmacherei, gegen die man entschieden Verwahrung einlegen muß. Wenn
der Verfasser uns seine aus der Praxis gewonnenen Ideen über den Bortrag
von Dichterwerken mittheilen wollte, so konnte er das letztere in einer Bro¬
schüre von 2 -- 3 Bogen thun. Zu einem Bande von 440 Seiten lag nicht
die geringste Nöthtgung vor.

Jeder Gruppe von Gedichten ist eine Einleitung vorausgeschickt. Hier
wird der Leser nochmals im Einzelnen darüber belehrt, in welchem Versfuße
die zugehörigen Gedichte verfaßt sind; dann folgen manchmal ein paar literar-
geschichtliche Notizen über die Quelle und Entstehung der Gedichte und einige
Phrasen über ihren poetischen Werth -- alles sehr dürftig, ohne Ordnung
und Zusammenhang, ohne Durcharbeitung hingeworfen. Man schlägt das
Capitel über die Ballade auf und hofft einige Andeutungen über das Wesen
dieser Dichtungsgattung zu finden -- keine Spur davon! Statt dessen wird
uns mitgetheilt, daß im "Fischer" und im "Sänger" von Goethe "das reine
jambische Metrum" herrscht, und daß im "Erlkönig" in den Worten: "Ich
liebe dich, mich reizt" nur zwei Hebungen erhalten sind. Aber auch über den
Vortrag der einzelnen Gedichte erfährt man in diesen' Einleitungen nichts.
Du möchtest vielleicht einmal den "Zauberlehrling" von Goethe vortragen und
schlägst nach, was Gene'e wohl über die zweimal wiederkehrende Strophe
"Walle! Walle! Manche Strecke" zu bemerken hat, ob er vielleicht der Ansicht


Der erste behandelt die altdeutschen Formen, der zweite und dritte die grie¬
chischen, der vierte die italienischen und spanischen; daran schließen sich im
fünften und sechsten Capitel die dramatischen Jamben, und im siebenten „die
deutsche Ballade" ; der achte Abend umfaßt Didaktisches und Elegisches, der
neunte bringt Schiller'sche Balladen, der zehnte das deutsche Lied und
Schiller's Glocke, der elfte „Neuere Balladen und erzählende Gedichte",
der zwölfte endlich „Verschiedene Formen". Man sieht sofort, daß in
dieser Gruppirung eine Confusion ganz verschiedener Gesichtspunkte vor¬
gegangen ist. Darüber ist sich auch der Verfasser vollkommen klar; um
so unbegreiflicher ist es, wie er sich dabei hat beruhigen können. Noch
ärger aber ist folgendes. In diesen zwölf Abenden sind nicht bloß eine
lange Reihe der bekanntesten deutschen Gedichte, die in allen Gedichtsamm¬
lungen für Schulen stehen und die jeder, der eine höhere Bildungsanstalt be¬
sucht hat, aus seiner Schulzeit zum großen Theil auswendig weiß, sondern
auch bogenlange Ausschnitte aus den bekanntesten deutschen Dramen (Nathan,
Carlos, Iphigenie, Tell), wörtlich abgedruckt. Von den 440 Seiten, aus
denen das Buch besteht, sind netto 300 mit Dichtungen bedruckt, 22 sind,
da jeder „poetische Abend" wieder sein besonderes Titelblatt hat, an Titel¬
blätter und Inhaltsverzeichnisse verschwendet, 24 sind ganz leer, und nur
der Rest wird durch den Text von Gene'e gefüllt! Das ist denn doch eine
Buchmacherei, gegen die man entschieden Verwahrung einlegen muß. Wenn
der Verfasser uns seine aus der Praxis gewonnenen Ideen über den Bortrag
von Dichterwerken mittheilen wollte, so konnte er das letztere in einer Bro¬
schüre von 2 — 3 Bogen thun. Zu einem Bande von 440 Seiten lag nicht
die geringste Nöthtgung vor.

Jeder Gruppe von Gedichten ist eine Einleitung vorausgeschickt. Hier
wird der Leser nochmals im Einzelnen darüber belehrt, in welchem Versfuße
die zugehörigen Gedichte verfaßt sind; dann folgen manchmal ein paar literar-
geschichtliche Notizen über die Quelle und Entstehung der Gedichte und einige
Phrasen über ihren poetischen Werth — alles sehr dürftig, ohne Ordnung
und Zusammenhang, ohne Durcharbeitung hingeworfen. Man schlägt das
Capitel über die Ballade auf und hofft einige Andeutungen über das Wesen
dieser Dichtungsgattung zu finden — keine Spur davon! Statt dessen wird
uns mitgetheilt, daß im „Fischer" und im „Sänger" von Goethe „das reine
jambische Metrum" herrscht, und daß im „Erlkönig" in den Worten: „Ich
liebe dich, mich reizt" nur zwei Hebungen erhalten sind. Aber auch über den
Vortrag der einzelnen Gedichte erfährt man in diesen' Einleitungen nichts.
Du möchtest vielleicht einmal den „Zauberlehrling" von Goethe vortragen und
schlägst nach, was Gene'e wohl über die zweimal wiederkehrende Strophe
„Walle! Walle! Manche Strecke" zu bemerken hat, ob er vielleicht der Ansicht


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[0241] Der erste behandelt die altdeutschen Formen, der zweite und dritte die grie¬ chischen, der vierte die italienischen und spanischen; daran schließen sich im fünften und sechsten Capitel die dramatischen Jamben, und im siebenten „die deutsche Ballade" ; der achte Abend umfaßt Didaktisches und Elegisches, der neunte bringt Schiller'sche Balladen, der zehnte das deutsche Lied und Schiller's Glocke, der elfte „Neuere Balladen und erzählende Gedichte", der zwölfte endlich „Verschiedene Formen". Man sieht sofort, daß in dieser Gruppirung eine Confusion ganz verschiedener Gesichtspunkte vor¬ gegangen ist. Darüber ist sich auch der Verfasser vollkommen klar; um so unbegreiflicher ist es, wie er sich dabei hat beruhigen können. Noch ärger aber ist folgendes. In diesen zwölf Abenden sind nicht bloß eine lange Reihe der bekanntesten deutschen Gedichte, die in allen Gedichtsamm¬ lungen für Schulen stehen und die jeder, der eine höhere Bildungsanstalt be¬ sucht hat, aus seiner Schulzeit zum großen Theil auswendig weiß, sondern auch bogenlange Ausschnitte aus den bekanntesten deutschen Dramen (Nathan, Carlos, Iphigenie, Tell), wörtlich abgedruckt. Von den 440 Seiten, aus denen das Buch besteht, sind netto 300 mit Dichtungen bedruckt, 22 sind, da jeder „poetische Abend" wieder sein besonderes Titelblatt hat, an Titel¬ blätter und Inhaltsverzeichnisse verschwendet, 24 sind ganz leer, und nur der Rest wird durch den Text von Gene'e gefüllt! Das ist denn doch eine Buchmacherei, gegen die man entschieden Verwahrung einlegen muß. Wenn der Verfasser uns seine aus der Praxis gewonnenen Ideen über den Bortrag von Dichterwerken mittheilen wollte, so konnte er das letztere in einer Bro¬ schüre von 2 — 3 Bogen thun. Zu einem Bande von 440 Seiten lag nicht die geringste Nöthtgung vor. Jeder Gruppe von Gedichten ist eine Einleitung vorausgeschickt. Hier wird der Leser nochmals im Einzelnen darüber belehrt, in welchem Versfuße die zugehörigen Gedichte verfaßt sind; dann folgen manchmal ein paar literar- geschichtliche Notizen über die Quelle und Entstehung der Gedichte und einige Phrasen über ihren poetischen Werth — alles sehr dürftig, ohne Ordnung und Zusammenhang, ohne Durcharbeitung hingeworfen. Man schlägt das Capitel über die Ballade auf und hofft einige Andeutungen über das Wesen dieser Dichtungsgattung zu finden — keine Spur davon! Statt dessen wird uns mitgetheilt, daß im „Fischer" und im „Sänger" von Goethe „das reine jambische Metrum" herrscht, und daß im „Erlkönig" in den Worten: „Ich liebe dich, mich reizt" nur zwei Hebungen erhalten sind. Aber auch über den Vortrag der einzelnen Gedichte erfährt man in diesen' Einleitungen nichts. Du möchtest vielleicht einmal den „Zauberlehrling" von Goethe vortragen und schlägst nach, was Gene'e wohl über die zweimal wiederkehrende Strophe „Walle! Walle! Manche Strecke" zu bemerken hat, ob er vielleicht der Ansicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/241>, abgerufen am 06.02.2025.