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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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mung zum Oberpräsidenten von ganz Preußen. Von 1773 bis ins Jahr 1827
hinein." So lautet die Aufschrift. Ob dieser Titel vom Herausgeber oder
von Schön selbst gewählt, erfahren wir Nicht; das letztere scheint sehr unwahr¬
scheinlich, da der Bericht faktisch nur bis 1824 geht. Die einzige Orientirung
über die zum Abdruck gebrachte Erzählung giebt uns die Note des Heraus¬
gebers: "Wann diese Selbstbiographie begonnen ist, kann ebensowenig festge¬
stellt werden, wie der genaue Zeitpunkt, an welchem ihre Bearbeitung auf¬
gehört hat."

Man braucht nicht grade Historiker von Fach zu sein, um zu wissen,
daß der Werth einer Autobiographie sehr wesentlich abhängt von dem Zeit¬
punkt, in dem sie geschrieben. Die Dinge, die ein Mensch erlebt, sehen ihm
selbst ganz anders aus in dem Augenblick, in dem er sie erlebt, und ganz an¬
ders in späterer Rückerinnerung.

Es liegt auf der Hand, daß ein bedeutender Mensch, wenn er die Er¬
lebnisse jüngerer Jahre in späterer Lebenszeit niederschreibe, schon die späteren
Ereignisse mitverwerthet zur Beurtheilung der früheren. Die Auffassung und
Denkungsart des Alters wird gleichsam von selbst in die Jugendgeschichte
hinein reflectirt. Immer wieder muß der Historiker hinweisen auf das Bor¬
bild, das Goethe für eine Selbstbiographie gegeben: unser deutscher Dichter¬
fürst in seiner Wahrheitsliebe hat selbst seine Lebenserinnerungen bezeichnet
als "Dichtung und Wahrheit". Es kann in der That nicht ausbleiben, daß
Jemand aus seinem eigenen Leben neben richtigen Thatsachen auch erdachte,
eingebildete, erdichtete Dinge erzählt. Wenn man aber diesen kritischen Grund¬
satz nicht ganz außer Augen lassen will, dann darf man nicht unerörtert und
ununtersucht lassen die Frage der Abfassungszeit solcher Memoiren.

Sollte wirklich sich in der Familientradition gar nichts darüber haben
ermitteln lassen? Das ist kaum glaublich. Jedenfalls wird man aus dem
Inhalte auf die Abfassungszeit Schlüsse ziehen können und dürfen.

Nun begegnet uns in den Preuß. Jahrbüchern (31, S. S21) ein Citat
aus Schön's im Jahre 1844 geschriebenen Denkwürdigkeiten. Diese Stelle
steht aber nicht in dem hier gedruckten Texte. An anderer Stelle finden wir
eine dort (31, S. 516 und 318) aus Schön's Memoiren gegebene Mitthei-.
lung nicht dem Wortlaute, wohl aber dem Sinne nach in der jetzt gedruckten
Selbstbiographie wieder: in dieser letzteren fehlen besonders die kaustischer
Worte Schön's über die "Handwerker" die "sieben Weisen" (so hatte er sich
über Männer ausgelassen, mit denen er nicht ganz übereinstimmte). Es er¬
giebt sich, daß die autobiographischen Aufzeichnungen Schön's wenigstens in
doppelter Gestalt vorhanden sind. Nicht eine Silbe der Aufklärung über die¬
sen Punkt und was damit zusammenhängt, (z. B. äußere Beschaffenheit,
Ausdehnung u. s, w. des Manuskriptes) hat uns der Herausgeber gegönnt.


mung zum Oberpräsidenten von ganz Preußen. Von 1773 bis ins Jahr 1827
hinein." So lautet die Aufschrift. Ob dieser Titel vom Herausgeber oder
von Schön selbst gewählt, erfahren wir Nicht; das letztere scheint sehr unwahr¬
scheinlich, da der Bericht faktisch nur bis 1824 geht. Die einzige Orientirung
über die zum Abdruck gebrachte Erzählung giebt uns die Note des Heraus¬
gebers: „Wann diese Selbstbiographie begonnen ist, kann ebensowenig festge¬
stellt werden, wie der genaue Zeitpunkt, an welchem ihre Bearbeitung auf¬
gehört hat."

Man braucht nicht grade Historiker von Fach zu sein, um zu wissen,
daß der Werth einer Autobiographie sehr wesentlich abhängt von dem Zeit¬
punkt, in dem sie geschrieben. Die Dinge, die ein Mensch erlebt, sehen ihm
selbst ganz anders aus in dem Augenblick, in dem er sie erlebt, und ganz an¬
ders in späterer Rückerinnerung.

Es liegt auf der Hand, daß ein bedeutender Mensch, wenn er die Er¬
lebnisse jüngerer Jahre in späterer Lebenszeit niederschreibe, schon die späteren
Ereignisse mitverwerthet zur Beurtheilung der früheren. Die Auffassung und
Denkungsart des Alters wird gleichsam von selbst in die Jugendgeschichte
hinein reflectirt. Immer wieder muß der Historiker hinweisen auf das Bor¬
bild, das Goethe für eine Selbstbiographie gegeben: unser deutscher Dichter¬
fürst in seiner Wahrheitsliebe hat selbst seine Lebenserinnerungen bezeichnet
als „Dichtung und Wahrheit". Es kann in der That nicht ausbleiben, daß
Jemand aus seinem eigenen Leben neben richtigen Thatsachen auch erdachte,
eingebildete, erdichtete Dinge erzählt. Wenn man aber diesen kritischen Grund¬
satz nicht ganz außer Augen lassen will, dann darf man nicht unerörtert und
ununtersucht lassen die Frage der Abfassungszeit solcher Memoiren.

Sollte wirklich sich in der Familientradition gar nichts darüber haben
ermitteln lassen? Das ist kaum glaublich. Jedenfalls wird man aus dem
Inhalte auf die Abfassungszeit Schlüsse ziehen können und dürfen.

Nun begegnet uns in den Preuß. Jahrbüchern (31, S. S21) ein Citat
aus Schön's im Jahre 1844 geschriebenen Denkwürdigkeiten. Diese Stelle
steht aber nicht in dem hier gedruckten Texte. An anderer Stelle finden wir
eine dort (31, S. 516 und 318) aus Schön's Memoiren gegebene Mitthei-.
lung nicht dem Wortlaute, wohl aber dem Sinne nach in der jetzt gedruckten
Selbstbiographie wieder: in dieser letzteren fehlen besonders die kaustischer
Worte Schön's über die „Handwerker" die „sieben Weisen" (so hatte er sich
über Männer ausgelassen, mit denen er nicht ganz übereinstimmte). Es er¬
giebt sich, daß die autobiographischen Aufzeichnungen Schön's wenigstens in
doppelter Gestalt vorhanden sind. Nicht eine Silbe der Aufklärung über die¬
sen Punkt und was damit zusammenhängt, (z. B. äußere Beschaffenheit,
Ausdehnung u. s, w. des Manuskriptes) hat uns der Herausgeber gegönnt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/166>, abgerufen am 05.02.2025.