Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

- Dieser Umstand erklärt Einiges, doch nicht Alles. Der Hauptgrund für
die Fortdauer einer wenn auch bescheidenen Volksdichtung muß anderswo,
muß im Volkscharakter zu suchen sein. Soweit man nun einen allgemeinen
Typus für die jetzt ja auch ziemlich gemischte Bevölkerung aufstellen kann, ist
der Vogtländer im Durchschnitt ein offner, ehrlicher, gutmüthiger Gesell, leicht
erregt, zur Fröhlichkeit und Geselligkeit geneigt, oft etwas derb in seinem
Auftreten; in den Städten waltet ein kräftiger, rühriger Sinn, der, umgeben
von einer kargen Natur, eine blühende Industrie entwickelt, einen soliden
Wohlstand begründet, und in den größeren Städten namentlich eine sehr
respectable Selbstverwaltung ausgebildet, einen männlichen Bürgerstolz gro߬
gezogen hat. Auch der vogtländische Landmann zeigt in seinem Berufe Ver¬
ständniß und Regsamkeit.

Man wird in diesen Charakterzügen das Erbtheil des fränkischen Stam¬
mes erkennen dürfen. Denn von diesem ging die Colonisation des obern
Elstergebietes aus.

Der vogtländische Dialekt ist der östliche Zweig des fränkischen; mit ihm
hat er z. B. das Abwerfen des auslautenden--n in "nehme" "gebe" statt
"nehmen" "geben" gemein; er hat, wie alle Dialekte, viele alterthümliche
Formen treu bewahrt; der Vogtländer sagt "ich gib" "ich nimm" "ich HKe",
"ich stehn;" auch das uralte "geschrieen" für "geschrien" kann man hören.
Er unterscheidet noch genau ü, das bei ihm an lautet, von on, wofür er s, sagt
(Taube aus tube, M aus taub, ahd. loup;) ebenso t, woraus er el macht
von el, das er in 6, übergehen läßt. (Sen, aus Stein, mei aus mein). Er
bildet keimet aus dem alten liront (Leinewand), renklich aus reinecliche, er
contrahirt cite aus ahd. egide statt egge.*) Als die fränkischen Colonisten
in das schon seit dem 10. Jahrhundert definitiv unterworfene Gebiet nach und
nach sich verbreiteten -- in größerer Menge kaum vor dem 12. Jahrhundert
-- so fanden sie wie überall an der Saale eine slavische Bevölkerung vor.
Aber sie beschränkte sich auf einzelne Striche des Landes, besonders auf die
Thäler der Elster, Göltzsch, Trieb, Syra. Hier treten slavische Ortsnamen
in größerer Zahl auf: Oelsnitz von si. visa, die Erle, Plauen, ursprünglich
Plawe von si. plawiti, schwemmen, überschwemmen (russ. plawna eine über¬
schwemmte Fläche), Greiz mit seinem Hradschin, oder, wie noch das Volk
spricht, Gretz von si. grad, (tschech. brät. herb. grad. russ. gorod). Schloß u. a.
Der Name der Göltzsch ist offenbar slavischen Ursprungs wie die Benennung
der an ihr liegenden Städte Mylau und Netzschkau; der Name der Trieb
stammt von si. driwo. Holz, und slawisch klingt endlich der Name des Syra-
bachs, wie der Kemnitz (Kamenica, Steinfluß). Aber im oberen (südlichen)



-) Diese und andere Beispiele giebt H. Dünger, Ueber Dialekt und Volkslied des Bogt-
lands. Plauen i, V., F. E. Neupert 1870.

- Dieser Umstand erklärt Einiges, doch nicht Alles. Der Hauptgrund für
die Fortdauer einer wenn auch bescheidenen Volksdichtung muß anderswo,
muß im Volkscharakter zu suchen sein. Soweit man nun einen allgemeinen
Typus für die jetzt ja auch ziemlich gemischte Bevölkerung aufstellen kann, ist
der Vogtländer im Durchschnitt ein offner, ehrlicher, gutmüthiger Gesell, leicht
erregt, zur Fröhlichkeit und Geselligkeit geneigt, oft etwas derb in seinem
Auftreten; in den Städten waltet ein kräftiger, rühriger Sinn, der, umgeben
von einer kargen Natur, eine blühende Industrie entwickelt, einen soliden
Wohlstand begründet, und in den größeren Städten namentlich eine sehr
respectable Selbstverwaltung ausgebildet, einen männlichen Bürgerstolz gro߬
gezogen hat. Auch der vogtländische Landmann zeigt in seinem Berufe Ver¬
ständniß und Regsamkeit.

Man wird in diesen Charakterzügen das Erbtheil des fränkischen Stam¬
mes erkennen dürfen. Denn von diesem ging die Colonisation des obern
Elstergebietes aus.

Der vogtländische Dialekt ist der östliche Zweig des fränkischen; mit ihm
hat er z. B. das Abwerfen des auslautenden—n in „nehme" „gebe" statt
„nehmen" „geben" gemein; er hat, wie alle Dialekte, viele alterthümliche
Formen treu bewahrt; der Vogtländer sagt „ich gib" „ich nimm" „ich HKe",
„ich stehn;" auch das uralte „geschrieen" für „geschrien" kann man hören.
Er unterscheidet noch genau ü, das bei ihm an lautet, von on, wofür er s, sagt
(Taube aus tube, M aus taub, ahd. loup;) ebenso t, woraus er el macht
von el, das er in 6, übergehen läßt. (Sen, aus Stein, mei aus mein). Er
bildet keimet aus dem alten liront (Leinewand), renklich aus reinecliche, er
contrahirt cite aus ahd. egide statt egge.*) Als die fränkischen Colonisten
in das schon seit dem 10. Jahrhundert definitiv unterworfene Gebiet nach und
nach sich verbreiteten — in größerer Menge kaum vor dem 12. Jahrhundert
— so fanden sie wie überall an der Saale eine slavische Bevölkerung vor.
Aber sie beschränkte sich auf einzelne Striche des Landes, besonders auf die
Thäler der Elster, Göltzsch, Trieb, Syra. Hier treten slavische Ortsnamen
in größerer Zahl auf: Oelsnitz von si. visa, die Erle, Plauen, ursprünglich
Plawe von si. plawiti, schwemmen, überschwemmen (russ. plawna eine über¬
schwemmte Fläche), Greiz mit seinem Hradschin, oder, wie noch das Volk
spricht, Gretz von si. grad, (tschech. brät. herb. grad. russ. gorod). Schloß u. a.
Der Name der Göltzsch ist offenbar slavischen Ursprungs wie die Benennung
der an ihr liegenden Städte Mylau und Netzschkau; der Name der Trieb
stammt von si. driwo. Holz, und slawisch klingt endlich der Name des Syra-
bachs, wie der Kemnitz (Kamenica, Steinfluß). Aber im oberen (südlichen)



-) Diese und andere Beispiele giebt H. Dünger, Ueber Dialekt und Volkslied des Bogt-
lands. Plauen i, V., F. E. Neupert 1870.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132830"/>
          <p xml:id="ID_236"> - Dieser Umstand erklärt Einiges, doch nicht Alles. Der Hauptgrund für<lb/>
die Fortdauer einer wenn auch bescheidenen Volksdichtung muß anderswo,<lb/>
muß im Volkscharakter zu suchen sein. Soweit man nun einen allgemeinen<lb/>
Typus für die jetzt ja auch ziemlich gemischte Bevölkerung aufstellen kann, ist<lb/>
der Vogtländer im Durchschnitt ein offner, ehrlicher, gutmüthiger Gesell, leicht<lb/>
erregt, zur Fröhlichkeit und Geselligkeit geneigt, oft etwas derb in seinem<lb/>
Auftreten; in den Städten waltet ein kräftiger, rühriger Sinn, der, umgeben<lb/>
von einer kargen Natur, eine blühende Industrie entwickelt, einen soliden<lb/>
Wohlstand begründet, und in den größeren Städten namentlich eine sehr<lb/>
respectable Selbstverwaltung ausgebildet, einen männlichen Bürgerstolz gro߬<lb/>
gezogen hat. Auch der vogtländische Landmann zeigt in seinem Berufe Ver¬<lb/>
ständniß und Regsamkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_237"> Man wird in diesen Charakterzügen das Erbtheil des fränkischen Stam¬<lb/>
mes erkennen dürfen. Denn von diesem ging die Colonisation des obern<lb/>
Elstergebietes aus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_238" next="#ID_239"> Der vogtländische Dialekt ist der östliche Zweig des fränkischen; mit ihm<lb/>
hat er z. B. das Abwerfen des auslautenden&#x2014;n in &#x201E;nehme" &#x201E;gebe" statt<lb/>
&#x201E;nehmen" &#x201E;geben" gemein; er hat, wie alle Dialekte, viele alterthümliche<lb/>
Formen treu bewahrt; der Vogtländer sagt &#x201E;ich gib" &#x201E;ich nimm" &#x201E;ich HKe",<lb/>
&#x201E;ich stehn;" auch das uralte &#x201E;geschrieen" für &#x201E;geschrien" kann man hören.<lb/>
Er unterscheidet noch genau ü, das bei ihm an lautet, von on, wofür er s, sagt<lb/>
(Taube aus tube, M aus taub, ahd. loup;) ebenso t, woraus er el macht<lb/>
von el, das er in 6, übergehen läßt. (Sen, aus Stein, mei aus mein). Er<lb/>
bildet keimet aus dem alten liront (Leinewand), renklich aus reinecliche, er<lb/>
contrahirt cite aus ahd. egide statt egge.*) Als die fränkischen Colonisten<lb/>
in das schon seit dem 10. Jahrhundert definitiv unterworfene Gebiet nach und<lb/>
nach sich verbreiteten &#x2014; in größerer Menge kaum vor dem 12. Jahrhundert<lb/>
&#x2014; so fanden sie wie überall an der Saale eine slavische Bevölkerung vor.<lb/>
Aber sie beschränkte sich auf einzelne Striche des Landes, besonders auf die<lb/>
Thäler der Elster, Göltzsch, Trieb, Syra. Hier treten slavische Ortsnamen<lb/>
in größerer Zahl auf: Oelsnitz von si. visa, die Erle, Plauen, ursprünglich<lb/>
Plawe von si. plawiti, schwemmen, überschwemmen (russ. plawna eine über¬<lb/>
schwemmte Fläche), Greiz mit seinem Hradschin, oder, wie noch das Volk<lb/>
spricht, Gretz von si. grad, (tschech. brät. herb. grad. russ. gorod). Schloß u. a.<lb/>
Der Name der Göltzsch ist offenbar slavischen Ursprungs wie die Benennung<lb/>
der an ihr liegenden Städte Mylau und Netzschkau; der Name der Trieb<lb/>
stammt von si. driwo. Holz, und slawisch klingt endlich der Name des Syra-<lb/>
bachs, wie der Kemnitz (Kamenica, Steinfluß). Aber im oberen (südlichen)</p><lb/>
          <note xml:id="FID_9" place="foot"> -) Diese und andere Beispiele giebt H. Dünger, Ueber Dialekt und Volkslied des Bogt-<lb/>
lands. Plauen i, V., F. E. Neupert 1870.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] - Dieser Umstand erklärt Einiges, doch nicht Alles. Der Hauptgrund für die Fortdauer einer wenn auch bescheidenen Volksdichtung muß anderswo, muß im Volkscharakter zu suchen sein. Soweit man nun einen allgemeinen Typus für die jetzt ja auch ziemlich gemischte Bevölkerung aufstellen kann, ist der Vogtländer im Durchschnitt ein offner, ehrlicher, gutmüthiger Gesell, leicht erregt, zur Fröhlichkeit und Geselligkeit geneigt, oft etwas derb in seinem Auftreten; in den Städten waltet ein kräftiger, rühriger Sinn, der, umgeben von einer kargen Natur, eine blühende Industrie entwickelt, einen soliden Wohlstand begründet, und in den größeren Städten namentlich eine sehr respectable Selbstverwaltung ausgebildet, einen männlichen Bürgerstolz gro߬ gezogen hat. Auch der vogtländische Landmann zeigt in seinem Berufe Ver¬ ständniß und Regsamkeit. Man wird in diesen Charakterzügen das Erbtheil des fränkischen Stam¬ mes erkennen dürfen. Denn von diesem ging die Colonisation des obern Elstergebietes aus. Der vogtländische Dialekt ist der östliche Zweig des fränkischen; mit ihm hat er z. B. das Abwerfen des auslautenden—n in „nehme" „gebe" statt „nehmen" „geben" gemein; er hat, wie alle Dialekte, viele alterthümliche Formen treu bewahrt; der Vogtländer sagt „ich gib" „ich nimm" „ich HKe", „ich stehn;" auch das uralte „geschrieen" für „geschrien" kann man hören. Er unterscheidet noch genau ü, das bei ihm an lautet, von on, wofür er s, sagt (Taube aus tube, M aus taub, ahd. loup;) ebenso t, woraus er el macht von el, das er in 6, übergehen läßt. (Sen, aus Stein, mei aus mein). Er bildet keimet aus dem alten liront (Leinewand), renklich aus reinecliche, er contrahirt cite aus ahd. egide statt egge.*) Als die fränkischen Colonisten in das schon seit dem 10. Jahrhundert definitiv unterworfene Gebiet nach und nach sich verbreiteten — in größerer Menge kaum vor dem 12. Jahrhundert — so fanden sie wie überall an der Saale eine slavische Bevölkerung vor. Aber sie beschränkte sich auf einzelne Striche des Landes, besonders auf die Thäler der Elster, Göltzsch, Trieb, Syra. Hier treten slavische Ortsnamen in größerer Zahl auf: Oelsnitz von si. visa, die Erle, Plauen, ursprünglich Plawe von si. plawiti, schwemmen, überschwemmen (russ. plawna eine über¬ schwemmte Fläche), Greiz mit seinem Hradschin, oder, wie noch das Volk spricht, Gretz von si. grad, (tschech. brät. herb. grad. russ. gorod). Schloß u. a. Der Name der Göltzsch ist offenbar slavischen Ursprungs wie die Benennung der an ihr liegenden Städte Mylau und Netzschkau; der Name der Trieb stammt von si. driwo. Holz, und slawisch klingt endlich der Name des Syra- bachs, wie der Kemnitz (Kamenica, Steinfluß). Aber im oberen (südlichen) -) Diese und andere Beispiele giebt H. Dünger, Ueber Dialekt und Volkslied des Bogt- lands. Plauen i, V., F. E. Neupert 1870.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/70>, abgerufen am 25.08.2024.