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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Selbstverständlich ist auch die knabenhafte Vorstellung von der Unend¬
lichkeit des väterlichen Portemonnaie diesseits und jenseits des Oceans die¬
selbe. Als Reichenau's Karl in die Welt zieht, zur Hochschule, winkt ihn der
Vater auf sein Zimmer. Karl's Blick ruht erwartungsvoll auf dem offen¬
stehenden, vom Lampenschein freundlich erhellten Pulte, als sollte von dorther
die Hauptsache kommen. "Es war ein einfaches Schreibepult und dennoch
hatten sämmtliche Familienglieder ein unbedingtes Zutrauen zu der Uner¬
schöpflichkeit seiner Hilfsquellen; nur das ehrwürdige Möbel selbst und der
Hausherr wußten recht gut, wie der Boden der Geldschieblade aussah."
Bailey aber begleitet die ersten Anzeichen der finanziellen Krise, die später
seinen Vater ruinirt und seinen eigenen Lebensplan von Grund aus ändert,
mit folgenden Worten: "Als der Capitain (mein Großvater) mir diese Kunde
mittheilte, machte ich mir über die Sache keine Sorge. Ich nahm an --
wenn ich überhaupt etwas annahm -- daß alle erwachsenen Leute immer
mehr oder weniger Geld hätten, wenn sie dessen bedürften. Ob sie es erbten,
oder ob die Regierung sie damit versah, war mir nicht klar. Eine unbestimmte
Vorstellung, daß mein Vater irgendwo ein Goldbergwerk zu seinem besondern
Gebrauch besäße, half mir über alle Unruhe und Unbehaglichst hinweg."

Genug von diesen Beispielen. Weit eingehender könnten Parallelstellen
anderer Art bei Aldrich und Reichenau aufgezeigt werden, welche die natio¬
nale Verschiedenheit deutschen und amerikanischen Jugendlebens bekunden.


Apfel zu treffen fuhr der Pfeil geraden Flugs in den Mund des gepfefferter
Whitcomb, der in dem Augenblicke offen stand und mein Zielen vereitelte.
Nie werde ich im Stande sein, diesen furchtbaren Moment aus meiner Er¬
innerung zu verbannen. Das Gebrüll des Gepfefferten. Staunen, Entrüstung
und Schmerz ausdrückend, klingt mir noch immer in den Ohren. Ich sah
ihn schon als Leiche vor mir und stellte mir, indem ich nicht weit in die düstre
Zukunft blickte, bereits vor, wie ich in Gegenwart derselben Zuschauer, die
hier versammelt waren, zur Hinrichtung geführt wurde. Glücklicher Weise
war der arme Gepfefferte nicht schwer verletzt. Aber Großvater Rudler, der
(von dem Geheul des jungen Tell herbeigeführt) inmitten der Verwirrung er¬
schien, erließ ein Verbot gegen alle theatralischen Künste, und das Haus wurde
geschlossen, indeß nicht ohne eine Abschiedsrede von meiner Seite, in welcher
ich sagte, daß dies der stolzeste Augenblick in meinem Leben gewesen sein
würde, wenn ich den gepfefferter Whitcomb nicht in den Mund geschossen
hätte, worauf die Zuschauerschaft (unterstützt vom Gepfefferten, wie ich mich
freue berichten zu können) "Hört! hört!" rief. Ich schrieb dann den Unfall
dem Gepfefferten selbst zu, dessen Mund, indem er in dem Augenblicke, wo ich
schoß, offen stand, auf den Pfeil ungefähr in der Weise eines Strudels gewirkt
und das verhängnißvolle Geschoß in sich hineingezogen habe."
Grenzboten I. 1875.

Selbstverständlich ist auch die knabenhafte Vorstellung von der Unend¬
lichkeit des väterlichen Portemonnaie diesseits und jenseits des Oceans die¬
selbe. Als Reichenau's Karl in die Welt zieht, zur Hochschule, winkt ihn der
Vater auf sein Zimmer. Karl's Blick ruht erwartungsvoll auf dem offen¬
stehenden, vom Lampenschein freundlich erhellten Pulte, als sollte von dorther
die Hauptsache kommen. „Es war ein einfaches Schreibepult und dennoch
hatten sämmtliche Familienglieder ein unbedingtes Zutrauen zu der Uner¬
schöpflichkeit seiner Hilfsquellen; nur das ehrwürdige Möbel selbst und der
Hausherr wußten recht gut, wie der Boden der Geldschieblade aussah."
Bailey aber begleitet die ersten Anzeichen der finanziellen Krise, die später
seinen Vater ruinirt und seinen eigenen Lebensplan von Grund aus ändert,
mit folgenden Worten: „Als der Capitain (mein Großvater) mir diese Kunde
mittheilte, machte ich mir über die Sache keine Sorge. Ich nahm an —
wenn ich überhaupt etwas annahm — daß alle erwachsenen Leute immer
mehr oder weniger Geld hätten, wenn sie dessen bedürften. Ob sie es erbten,
oder ob die Regierung sie damit versah, war mir nicht klar. Eine unbestimmte
Vorstellung, daß mein Vater irgendwo ein Goldbergwerk zu seinem besondern
Gebrauch besäße, half mir über alle Unruhe und Unbehaglichst hinweg."

Genug von diesen Beispielen. Weit eingehender könnten Parallelstellen
anderer Art bei Aldrich und Reichenau aufgezeigt werden, welche die natio¬
nale Verschiedenheit deutschen und amerikanischen Jugendlebens bekunden.


Apfel zu treffen fuhr der Pfeil geraden Flugs in den Mund des gepfefferter
Whitcomb, der in dem Augenblicke offen stand und mein Zielen vereitelte.
Nie werde ich im Stande sein, diesen furchtbaren Moment aus meiner Er¬
innerung zu verbannen. Das Gebrüll des Gepfefferten. Staunen, Entrüstung
und Schmerz ausdrückend, klingt mir noch immer in den Ohren. Ich sah
ihn schon als Leiche vor mir und stellte mir, indem ich nicht weit in die düstre
Zukunft blickte, bereits vor, wie ich in Gegenwart derselben Zuschauer, die
hier versammelt waren, zur Hinrichtung geführt wurde. Glücklicher Weise
war der arme Gepfefferte nicht schwer verletzt. Aber Großvater Rudler, der
(von dem Geheul des jungen Tell herbeigeführt) inmitten der Verwirrung er¬
schien, erließ ein Verbot gegen alle theatralischen Künste, und das Haus wurde
geschlossen, indeß nicht ohne eine Abschiedsrede von meiner Seite, in welcher
ich sagte, daß dies der stolzeste Augenblick in meinem Leben gewesen sein
würde, wenn ich den gepfefferter Whitcomb nicht in den Mund geschossen
hätte, worauf die Zuschauerschaft (unterstützt vom Gepfefferten, wie ich mich
freue berichten zu können) „Hört! hört!" rief. Ich schrieb dann den Unfall
dem Gepfefferten selbst zu, dessen Mund, indem er in dem Augenblicke, wo ich
schoß, offen stand, auf den Pfeil ungefähr in der Weise eines Strudels gewirkt
und das verhängnißvolle Geschoß in sich hineingezogen habe."
Grenzboten I. 1875.
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[0433] Selbstverständlich ist auch die knabenhafte Vorstellung von der Unend¬ lichkeit des väterlichen Portemonnaie diesseits und jenseits des Oceans die¬ selbe. Als Reichenau's Karl in die Welt zieht, zur Hochschule, winkt ihn der Vater auf sein Zimmer. Karl's Blick ruht erwartungsvoll auf dem offen¬ stehenden, vom Lampenschein freundlich erhellten Pulte, als sollte von dorther die Hauptsache kommen. „Es war ein einfaches Schreibepult und dennoch hatten sämmtliche Familienglieder ein unbedingtes Zutrauen zu der Uner¬ schöpflichkeit seiner Hilfsquellen; nur das ehrwürdige Möbel selbst und der Hausherr wußten recht gut, wie der Boden der Geldschieblade aussah." Bailey aber begleitet die ersten Anzeichen der finanziellen Krise, die später seinen Vater ruinirt und seinen eigenen Lebensplan von Grund aus ändert, mit folgenden Worten: „Als der Capitain (mein Großvater) mir diese Kunde mittheilte, machte ich mir über die Sache keine Sorge. Ich nahm an — wenn ich überhaupt etwas annahm — daß alle erwachsenen Leute immer mehr oder weniger Geld hätten, wenn sie dessen bedürften. Ob sie es erbten, oder ob die Regierung sie damit versah, war mir nicht klar. Eine unbestimmte Vorstellung, daß mein Vater irgendwo ein Goldbergwerk zu seinem besondern Gebrauch besäße, half mir über alle Unruhe und Unbehaglichst hinweg." Genug von diesen Beispielen. Weit eingehender könnten Parallelstellen anderer Art bei Aldrich und Reichenau aufgezeigt werden, welche die natio¬ nale Verschiedenheit deutschen und amerikanischen Jugendlebens bekunden. Apfel zu treffen fuhr der Pfeil geraden Flugs in den Mund des gepfefferter Whitcomb, der in dem Augenblicke offen stand und mein Zielen vereitelte. Nie werde ich im Stande sein, diesen furchtbaren Moment aus meiner Er¬ innerung zu verbannen. Das Gebrüll des Gepfefferten. Staunen, Entrüstung und Schmerz ausdrückend, klingt mir noch immer in den Ohren. Ich sah ihn schon als Leiche vor mir und stellte mir, indem ich nicht weit in die düstre Zukunft blickte, bereits vor, wie ich in Gegenwart derselben Zuschauer, die hier versammelt waren, zur Hinrichtung geführt wurde. Glücklicher Weise war der arme Gepfefferte nicht schwer verletzt. Aber Großvater Rudler, der (von dem Geheul des jungen Tell herbeigeführt) inmitten der Verwirrung er¬ schien, erließ ein Verbot gegen alle theatralischen Künste, und das Haus wurde geschlossen, indeß nicht ohne eine Abschiedsrede von meiner Seite, in welcher ich sagte, daß dies der stolzeste Augenblick in meinem Leben gewesen sein würde, wenn ich den gepfefferter Whitcomb nicht in den Mund geschossen hätte, worauf die Zuschauerschaft (unterstützt vom Gepfefferten, wie ich mich freue berichten zu können) „Hört! hört!" rief. Ich schrieb dann den Unfall dem Gepfefferten selbst zu, dessen Mund, indem er in dem Augenblicke, wo ich schoß, offen stand, auf den Pfeil ungefähr in der Weise eines Strudels gewirkt und das verhängnißvolle Geschoß in sich hineingezogen habe." Grenzboten I. 1875.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/433>, abgerufen am 23.07.2024.