Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

weit größerem Rechte darf die andauernde Krise als ein heilsamer Läuterungs¬
prozeß betrachtet werden, heilsam für alle Schichten der Bevölkerung, denn
alle standen auf dem Punkte, im Taumel eitler Hoffahrt die sittlichen Elemente
des Lebens zu vergessen. Großes Vergnügen wird diese Wanderung durchs
Fegefeuer den Betheiligten freilich nicht gerade bereiten. So mancher Jung¬
gesell versagt sich wohl nur schweren Herzens den Sport, das Spiel und
andere süße Gewohnheiten und so manche Jungfrau richtet wohl feuchten
Auges die Frage an den Himmel: "Warum muß grade meine Jugend in
die Tage des verblichenen Glanzes fallen?" Getrost, schönes Kind, es wird
dein Schaden nicht sein. Sind wir erst gründlich zu einer vernünftigeren
Lebensweise zurückgekehrt, dann wird so mancher Mann nicht mehr vor den
unerschwinglichen Kosten eines eigenen Herdes zurückzuschrecken brauchen und
die Schaar jener verblühten Grazien, denen der nagende Kummer um die
erfolglos dahingerauschte Glanzperiode den Nest der Tage verbittert, wird sich
erheblich vermindern. Obendrein hat dir der Himmel für das Vergnügen
des schwülen Tanzsaals einen zehnfach gesunderen und hundertfach poetischeren
Ersatz geboten durch die herrliche Eisbahn, die die Wangen röchet und die
Seele erfrischt! Also fort mit dem Trübsinn und heiteren Muthes dem neuen
Zuschnitt des Lebens sich anbequemt! Dann wird aus unseren Tagen wieder
ein Geschlecht ächt deutscher Frauen hervorgehen. --

An geistigen Genüssen leiden wir auch in diesem Winter keinen Mangel.
Im "wissenschaftlichen Verein", der allsonnabendlich in den Räumen der Sing¬
akademie ein ausgewähltes Auditorium versammelt, sind in jüngster Zeit die
Vorträge Sybel's und Treitschke's der Glanzpunkt gewesen. Jener zeichnete
in reicher Gedankenfülle und mit der ihm eigenen Formvollendung das Le¬
bensbild der unglücklichen Marie Antoinette, dieser enthüllte, mit dem ganzen
Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit, Samuel Pufendorf's wissenschaftliche
und vor Allem seine nationale Bedeutung. Mit diesem Treitschke'schen Vor¬
trage ist dem so lange verkannten, vielfach geschmähten, von den Meisten so¬
gar ganz vergessenen Patrioten, der den Zustand Deutschlands in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts wie kein Anderer mit politischem Scharfblick
durchschaut und seine Jämmerlichkeit bald mit beißendem Spott, bald mit
heiligem Zorne gegeißelt hat, endlich Genugthuung widerfahren- Der berühmte
Essayist wird hoffentlich nicht unterlassen, durch Veröffentlichung dieses Charak¬
terbildes die Schuld der Nation an Pufendorf vollgültig abzutragen.

Im Reiche der Musik ist in den letzten Wochen Rubinstein bei uns König
gewesen. Ueber die vollendete Technik und die überwältigende Genialität
seines Klavierspiels auch nur ein Wort zu sagen, wäre thörichter Ueberfluß.
Aber über den Compo nisten Rubinstein mögen ein paar flüchtige Bemer-


weit größerem Rechte darf die andauernde Krise als ein heilsamer Läuterungs¬
prozeß betrachtet werden, heilsam für alle Schichten der Bevölkerung, denn
alle standen auf dem Punkte, im Taumel eitler Hoffahrt die sittlichen Elemente
des Lebens zu vergessen. Großes Vergnügen wird diese Wanderung durchs
Fegefeuer den Betheiligten freilich nicht gerade bereiten. So mancher Jung¬
gesell versagt sich wohl nur schweren Herzens den Sport, das Spiel und
andere süße Gewohnheiten und so manche Jungfrau richtet wohl feuchten
Auges die Frage an den Himmel: „Warum muß grade meine Jugend in
die Tage des verblichenen Glanzes fallen?" Getrost, schönes Kind, es wird
dein Schaden nicht sein. Sind wir erst gründlich zu einer vernünftigeren
Lebensweise zurückgekehrt, dann wird so mancher Mann nicht mehr vor den
unerschwinglichen Kosten eines eigenen Herdes zurückzuschrecken brauchen und
die Schaar jener verblühten Grazien, denen der nagende Kummer um die
erfolglos dahingerauschte Glanzperiode den Nest der Tage verbittert, wird sich
erheblich vermindern. Obendrein hat dir der Himmel für das Vergnügen
des schwülen Tanzsaals einen zehnfach gesunderen und hundertfach poetischeren
Ersatz geboten durch die herrliche Eisbahn, die die Wangen röchet und die
Seele erfrischt! Also fort mit dem Trübsinn und heiteren Muthes dem neuen
Zuschnitt des Lebens sich anbequemt! Dann wird aus unseren Tagen wieder
ein Geschlecht ächt deutscher Frauen hervorgehen. —

An geistigen Genüssen leiden wir auch in diesem Winter keinen Mangel.
Im „wissenschaftlichen Verein", der allsonnabendlich in den Räumen der Sing¬
akademie ein ausgewähltes Auditorium versammelt, sind in jüngster Zeit die
Vorträge Sybel's und Treitschke's der Glanzpunkt gewesen. Jener zeichnete
in reicher Gedankenfülle und mit der ihm eigenen Formvollendung das Le¬
bensbild der unglücklichen Marie Antoinette, dieser enthüllte, mit dem ganzen
Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit, Samuel Pufendorf's wissenschaftliche
und vor Allem seine nationale Bedeutung. Mit diesem Treitschke'schen Vor¬
trage ist dem so lange verkannten, vielfach geschmähten, von den Meisten so¬
gar ganz vergessenen Patrioten, der den Zustand Deutschlands in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts wie kein Anderer mit politischem Scharfblick
durchschaut und seine Jämmerlichkeit bald mit beißendem Spott, bald mit
heiligem Zorne gegeißelt hat, endlich Genugthuung widerfahren- Der berühmte
Essayist wird hoffentlich nicht unterlassen, durch Veröffentlichung dieses Charak¬
terbildes die Schuld der Nation an Pufendorf vollgültig abzutragen.

Im Reiche der Musik ist in den letzten Wochen Rubinstein bei uns König
gewesen. Ueber die vollendete Technik und die überwältigende Genialität
seines Klavierspiels auch nur ein Wort zu sagen, wäre thörichter Ueberfluß.
Aber über den Compo nisten Rubinstein mögen ein paar flüchtige Bemer-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133163"/>
          <p xml:id="ID_1430" prev="#ID_1429"> weit größerem Rechte darf die andauernde Krise als ein heilsamer Läuterungs¬<lb/>
prozeß betrachtet werden, heilsam für alle Schichten der Bevölkerung, denn<lb/>
alle standen auf dem Punkte, im Taumel eitler Hoffahrt die sittlichen Elemente<lb/>
des Lebens zu vergessen. Großes Vergnügen wird diese Wanderung durchs<lb/>
Fegefeuer den Betheiligten freilich nicht gerade bereiten. So mancher Jung¬<lb/>
gesell versagt sich wohl nur schweren Herzens den Sport, das Spiel und<lb/>
andere süße Gewohnheiten und so manche Jungfrau richtet wohl feuchten<lb/>
Auges die Frage an den Himmel: &#x201E;Warum muß grade meine Jugend in<lb/>
die Tage des verblichenen Glanzes fallen?" Getrost, schönes Kind, es wird<lb/>
dein Schaden nicht sein. Sind wir erst gründlich zu einer vernünftigeren<lb/>
Lebensweise zurückgekehrt, dann wird so mancher Mann nicht mehr vor den<lb/>
unerschwinglichen Kosten eines eigenen Herdes zurückzuschrecken brauchen und<lb/>
die Schaar jener verblühten Grazien, denen der nagende Kummer um die<lb/>
erfolglos dahingerauschte Glanzperiode den Nest der Tage verbittert, wird sich<lb/>
erheblich vermindern. Obendrein hat dir der Himmel für das Vergnügen<lb/>
des schwülen Tanzsaals einen zehnfach gesunderen und hundertfach poetischeren<lb/>
Ersatz geboten durch die herrliche Eisbahn, die die Wangen röchet und die<lb/>
Seele erfrischt! Also fort mit dem Trübsinn und heiteren Muthes dem neuen<lb/>
Zuschnitt des Lebens sich anbequemt! Dann wird aus unseren Tagen wieder<lb/>
ein Geschlecht ächt deutscher Frauen hervorgehen. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1431"> An geistigen Genüssen leiden wir auch in diesem Winter keinen Mangel.<lb/>
Im &#x201E;wissenschaftlichen Verein", der allsonnabendlich in den Räumen der Sing¬<lb/>
akademie ein ausgewähltes Auditorium versammelt, sind in jüngster Zeit die<lb/>
Vorträge Sybel's und Treitschke's der Glanzpunkt gewesen. Jener zeichnete<lb/>
in reicher Gedankenfülle und mit der ihm eigenen Formvollendung das Le¬<lb/>
bensbild der unglücklichen Marie Antoinette, dieser enthüllte, mit dem ganzen<lb/>
Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit, Samuel Pufendorf's wissenschaftliche<lb/>
und vor Allem seine nationale Bedeutung. Mit diesem Treitschke'schen Vor¬<lb/>
trage ist dem so lange verkannten, vielfach geschmähten, von den Meisten so¬<lb/>
gar ganz vergessenen Patrioten, der den Zustand Deutschlands in der zweiten<lb/>
Hälfte des 17. Jahrhunderts wie kein Anderer mit politischem Scharfblick<lb/>
durchschaut und seine Jämmerlichkeit bald mit beißendem Spott, bald mit<lb/>
heiligem Zorne gegeißelt hat, endlich Genugthuung widerfahren- Der berühmte<lb/>
Essayist wird hoffentlich nicht unterlassen, durch Veröffentlichung dieses Charak¬<lb/>
terbildes die Schuld der Nation an Pufendorf vollgültig abzutragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1432" next="#ID_1433"> Im Reiche der Musik ist in den letzten Wochen Rubinstein bei uns König<lb/>
gewesen. Ueber die vollendete Technik und die überwältigende Genialität<lb/>
seines Klavierspiels auch nur ein Wort zu sagen, wäre thörichter Ueberfluß.<lb/>
Aber über den Compo nisten Rubinstein mögen ein paar flüchtige Bemer-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] weit größerem Rechte darf die andauernde Krise als ein heilsamer Läuterungs¬ prozeß betrachtet werden, heilsam für alle Schichten der Bevölkerung, denn alle standen auf dem Punkte, im Taumel eitler Hoffahrt die sittlichen Elemente des Lebens zu vergessen. Großes Vergnügen wird diese Wanderung durchs Fegefeuer den Betheiligten freilich nicht gerade bereiten. So mancher Jung¬ gesell versagt sich wohl nur schweren Herzens den Sport, das Spiel und andere süße Gewohnheiten und so manche Jungfrau richtet wohl feuchten Auges die Frage an den Himmel: „Warum muß grade meine Jugend in die Tage des verblichenen Glanzes fallen?" Getrost, schönes Kind, es wird dein Schaden nicht sein. Sind wir erst gründlich zu einer vernünftigeren Lebensweise zurückgekehrt, dann wird so mancher Mann nicht mehr vor den unerschwinglichen Kosten eines eigenen Herdes zurückzuschrecken brauchen und die Schaar jener verblühten Grazien, denen der nagende Kummer um die erfolglos dahingerauschte Glanzperiode den Nest der Tage verbittert, wird sich erheblich vermindern. Obendrein hat dir der Himmel für das Vergnügen des schwülen Tanzsaals einen zehnfach gesunderen und hundertfach poetischeren Ersatz geboten durch die herrliche Eisbahn, die die Wangen röchet und die Seele erfrischt! Also fort mit dem Trübsinn und heiteren Muthes dem neuen Zuschnitt des Lebens sich anbequemt! Dann wird aus unseren Tagen wieder ein Geschlecht ächt deutscher Frauen hervorgehen. — An geistigen Genüssen leiden wir auch in diesem Winter keinen Mangel. Im „wissenschaftlichen Verein", der allsonnabendlich in den Räumen der Sing¬ akademie ein ausgewähltes Auditorium versammelt, sind in jüngster Zeit die Vorträge Sybel's und Treitschke's der Glanzpunkt gewesen. Jener zeichnete in reicher Gedankenfülle und mit der ihm eigenen Formvollendung das Le¬ bensbild der unglücklichen Marie Antoinette, dieser enthüllte, mit dem ganzen Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit, Samuel Pufendorf's wissenschaftliche und vor Allem seine nationale Bedeutung. Mit diesem Treitschke'schen Vor¬ trage ist dem so lange verkannten, vielfach geschmähten, von den Meisten so¬ gar ganz vergessenen Patrioten, der den Zustand Deutschlands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wie kein Anderer mit politischem Scharfblick durchschaut und seine Jämmerlichkeit bald mit beißendem Spott, bald mit heiligem Zorne gegeißelt hat, endlich Genugthuung widerfahren- Der berühmte Essayist wird hoffentlich nicht unterlassen, durch Veröffentlichung dieses Charak¬ terbildes die Schuld der Nation an Pufendorf vollgültig abzutragen. Im Reiche der Musik ist in den letzten Wochen Rubinstein bei uns König gewesen. Ueber die vollendete Technik und die überwältigende Genialität seines Klavierspiels auch nur ein Wort zu sagen, wäre thörichter Ueberfluß. Aber über den Compo nisten Rubinstein mögen ein paar flüchtige Bemer-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/403>, abgerufen am 23.07.2024.