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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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von Mosenthal: "Die Sirene." Es ist wirklich ein eclatanter Beweis der
rührenden Genügsamkeit unserer Zeit, wenn dies Stück als eines der besseren,
ja besten Producte der neuesten dramatischen Literatur anerkannt wird. Sein
Stoff ist die alte Geschichte von der verkannten Gouvernante oder Gesell¬
schafterin, die schließlich von einem Edelmann heimgeführt wird. Nur bewegt
sich die interessante Jungfrau diesmal nicht in der Sphäre Birchpfeiffer'scher
Sentimentalität, sondern sie ist ein ausgelassener kleiner Kobold und möchte
sich halb todtlachen darüber, daß sie trotz ihres noch sehr jugendlichen Alters
nun schon bei der fünften Dame Gesellschafterin ist und alle Aussicht hat,
demnächst aufs Neue fortgejagt zu werden. Das erste Mal wurde sie fort¬
geschickt, weil sie beim Liebhabertheaterspielen einem vor ihr knienden, etwas
beschränkten jungen Mann gegenüber Manipulationen machte, wie wenn man
einen Hund anlockt; das zweite Mal, weil sie in einer sehr frommen Kaffee¬
gesellschaft der Teufel plagte, einmal zu Probiren, wie in dieser feierlichen
Stille wohl ein plötzliches "Schockschwerenothsdonnerwetter" wirken müsse
u. f. w. Im Uebrigen ist diese etwas derbe Fidelität ihr einziger Fehler; sonst
ist sie ein Engel. Den Namen "Sirene" hat ihr ein Zufall verschafft, mit
ihrem Charakter hat er nichts gemein; denn daran, daß sie von dem Baron
einmal zu ungewohnter Stunde in etwas derangirter Toilette überrascht wird,
ist sie ganz unschuldig. Diese Figur allein trägt das ganze Stück, die anderen
sind nicht schlecht, aber nur skizzenhaft gezeichnet. Die Handlung könnte
frischer und kürzer sein. Indeß, wenn man das Glück hat, die kleine Sirene
von einer so genialen Künstlerin, wie Frau Niemann - Raabe dargestellt zu
sehen, so wird man unter allen Umständen die Erinnerung an einen genu߬
reichen Abend davontragen.

Das Friedrich - Wilhelmstädtische Theater lebt seit einigen Wochen von
Lecoq's Operette "Girofle-Girofla". Vor etwa Jahresfrist erlaubte ich mir
bei Besprechung von "Mamsell Angot" die Bemerkung, daß Lecoq sich als
die Umkehr von der lasciven Depravation der Musik durch Offenbach zu
einer würdigeren Behandlung derselben ansehen lasse. Diese Beobachtung
finde ich durch "Girofle'" bestätigt. An Stelle der Offenbach'schen Originalität
ist ein vielseitiger Eklekticismus getreten; aber es sind meistens gefällige und
nirgends verletzende Weisen. Leider erstreckt sich aber die Umkehr keineswegs
auf den Text; da bleibt es bei der alten Unmoralität. Dazu kommt, daß
die Witze der Librettoschreiber Verlöv und Leterrier sehr faul und die Hand¬
lung ziemlich langweilig ist. Von den zwei Töchtern eines spanischen Granden
wird die eine, Girofla, von Seeräubern gestohlen und nun muß die ihr zum
Verwechseln ähnlich sehende Girofle sie, wo es nöthig ist, vertreten und so
sich auch mit zwei verschiedenen Männern trauen lassen. Die daraus ent¬
stehenden anzüglichen Situationen bilden den Corpus des Stücks. Gespiele


von Mosenthal: „Die Sirene." Es ist wirklich ein eclatanter Beweis der
rührenden Genügsamkeit unserer Zeit, wenn dies Stück als eines der besseren,
ja besten Producte der neuesten dramatischen Literatur anerkannt wird. Sein
Stoff ist die alte Geschichte von der verkannten Gouvernante oder Gesell¬
schafterin, die schließlich von einem Edelmann heimgeführt wird. Nur bewegt
sich die interessante Jungfrau diesmal nicht in der Sphäre Birchpfeiffer'scher
Sentimentalität, sondern sie ist ein ausgelassener kleiner Kobold und möchte
sich halb todtlachen darüber, daß sie trotz ihres noch sehr jugendlichen Alters
nun schon bei der fünften Dame Gesellschafterin ist und alle Aussicht hat,
demnächst aufs Neue fortgejagt zu werden. Das erste Mal wurde sie fort¬
geschickt, weil sie beim Liebhabertheaterspielen einem vor ihr knienden, etwas
beschränkten jungen Mann gegenüber Manipulationen machte, wie wenn man
einen Hund anlockt; das zweite Mal, weil sie in einer sehr frommen Kaffee¬
gesellschaft der Teufel plagte, einmal zu Probiren, wie in dieser feierlichen
Stille wohl ein plötzliches „Schockschwerenothsdonnerwetter" wirken müsse
u. f. w. Im Uebrigen ist diese etwas derbe Fidelität ihr einziger Fehler; sonst
ist sie ein Engel. Den Namen „Sirene" hat ihr ein Zufall verschafft, mit
ihrem Charakter hat er nichts gemein; denn daran, daß sie von dem Baron
einmal zu ungewohnter Stunde in etwas derangirter Toilette überrascht wird,
ist sie ganz unschuldig. Diese Figur allein trägt das ganze Stück, die anderen
sind nicht schlecht, aber nur skizzenhaft gezeichnet. Die Handlung könnte
frischer und kürzer sein. Indeß, wenn man das Glück hat, die kleine Sirene
von einer so genialen Künstlerin, wie Frau Niemann - Raabe dargestellt zu
sehen, so wird man unter allen Umständen die Erinnerung an einen genu߬
reichen Abend davontragen.

Das Friedrich - Wilhelmstädtische Theater lebt seit einigen Wochen von
Lecoq's Operette „Girofle-Girofla". Vor etwa Jahresfrist erlaubte ich mir
bei Besprechung von „Mamsell Angot" die Bemerkung, daß Lecoq sich als
die Umkehr von der lasciven Depravation der Musik durch Offenbach zu
einer würdigeren Behandlung derselben ansehen lasse. Diese Beobachtung
finde ich durch „Girofle'" bestätigt. An Stelle der Offenbach'schen Originalität
ist ein vielseitiger Eklekticismus getreten; aber es sind meistens gefällige und
nirgends verletzende Weisen. Leider erstreckt sich aber die Umkehr keineswegs
auf den Text; da bleibt es bei der alten Unmoralität. Dazu kommt, daß
die Witze der Librettoschreiber Verlöv und Leterrier sehr faul und die Hand¬
lung ziemlich langweilig ist. Von den zwei Töchtern eines spanischen Granden
wird die eine, Girofla, von Seeräubern gestohlen und nun muß die ihr zum
Verwechseln ähnlich sehende Girofle sie, wo es nöthig ist, vertreten und so
sich auch mit zwei verschiedenen Männern trauen lassen. Die daraus ent¬
stehenden anzüglichen Situationen bilden den Corpus des Stücks. Gespiele


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[0126] von Mosenthal: „Die Sirene." Es ist wirklich ein eclatanter Beweis der rührenden Genügsamkeit unserer Zeit, wenn dies Stück als eines der besseren, ja besten Producte der neuesten dramatischen Literatur anerkannt wird. Sein Stoff ist die alte Geschichte von der verkannten Gouvernante oder Gesell¬ schafterin, die schließlich von einem Edelmann heimgeführt wird. Nur bewegt sich die interessante Jungfrau diesmal nicht in der Sphäre Birchpfeiffer'scher Sentimentalität, sondern sie ist ein ausgelassener kleiner Kobold und möchte sich halb todtlachen darüber, daß sie trotz ihres noch sehr jugendlichen Alters nun schon bei der fünften Dame Gesellschafterin ist und alle Aussicht hat, demnächst aufs Neue fortgejagt zu werden. Das erste Mal wurde sie fort¬ geschickt, weil sie beim Liebhabertheaterspielen einem vor ihr knienden, etwas beschränkten jungen Mann gegenüber Manipulationen machte, wie wenn man einen Hund anlockt; das zweite Mal, weil sie in einer sehr frommen Kaffee¬ gesellschaft der Teufel plagte, einmal zu Probiren, wie in dieser feierlichen Stille wohl ein plötzliches „Schockschwerenothsdonnerwetter" wirken müsse u. f. w. Im Uebrigen ist diese etwas derbe Fidelität ihr einziger Fehler; sonst ist sie ein Engel. Den Namen „Sirene" hat ihr ein Zufall verschafft, mit ihrem Charakter hat er nichts gemein; denn daran, daß sie von dem Baron einmal zu ungewohnter Stunde in etwas derangirter Toilette überrascht wird, ist sie ganz unschuldig. Diese Figur allein trägt das ganze Stück, die anderen sind nicht schlecht, aber nur skizzenhaft gezeichnet. Die Handlung könnte frischer und kürzer sein. Indeß, wenn man das Glück hat, die kleine Sirene von einer so genialen Künstlerin, wie Frau Niemann - Raabe dargestellt zu sehen, so wird man unter allen Umständen die Erinnerung an einen genu߬ reichen Abend davontragen. Das Friedrich - Wilhelmstädtische Theater lebt seit einigen Wochen von Lecoq's Operette „Girofle-Girofla". Vor etwa Jahresfrist erlaubte ich mir bei Besprechung von „Mamsell Angot" die Bemerkung, daß Lecoq sich als die Umkehr von der lasciven Depravation der Musik durch Offenbach zu einer würdigeren Behandlung derselben ansehen lasse. Diese Beobachtung finde ich durch „Girofle'" bestätigt. An Stelle der Offenbach'schen Originalität ist ein vielseitiger Eklekticismus getreten; aber es sind meistens gefällige und nirgends verletzende Weisen. Leider erstreckt sich aber die Umkehr keineswegs auf den Text; da bleibt es bei der alten Unmoralität. Dazu kommt, daß die Witze der Librettoschreiber Verlöv und Leterrier sehr faul und die Hand¬ lung ziemlich langweilig ist. Von den zwei Töchtern eines spanischen Granden wird die eine, Girofla, von Seeräubern gestohlen und nun muß die ihr zum Verwechseln ähnlich sehende Girofle sie, wo es nöthig ist, vertreten und so sich auch mit zwei verschiedenen Männern trauen lassen. Die daraus ent¬ stehenden anzüglichen Situationen bilden den Corpus des Stücks. Gespiele

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/126>, abgerufen am 23.07.2024.