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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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zwölfjährige rastlose Thätigkeit wird unvergessen bleiben, sie wird erhalten
bleiben im Andenken der Stadt als ein Beispiel von ächtem Bürgerthum,
als ein seltenes Beispiel treuer Hingebung." Warum aber dann diese brüske
Beseitigung eines solchen Mannes? War Herr Kochhann etwa altersschwach
geworden? oder widersetzte er sich der Wiederwahl? oder hatte der "Berg"
ihm wenigstens einen Nachfolger zu geben, der die Gewähr bot für eine gleich
gute Führung der Geschäfte? Nichts von Allem: Herr Kochhann gehört
nicht zur "Fraction," er erlaubt sich sogar, der Ansicht zu sein, daß die Her¬
eintragung politischen Fractionswesens in communale Bürgerschaften dem
Gemeinwesen nicht zum Heile gereichen könne -- darum mußte er fallen.

Indeß, man war darauf gefaßt gewesen, daß die Radicalen die Vor¬
steherwahl zu einer Machtprobe benutzen würden. Der Glanzpunkt in der
Inaugurationsfeier der neuen Aera, die Hauptüberraschung stand noch bevor.
Unter den neugewählten Stadtverordneten befindet sich der als Repräsentant
der äußersten Linken der Fortschrittspartei bekannte Eugen Richter. Herr
Richter erfreut sich im Reichstage und Landtage als "Finanzcapaeität," wenn
auch keineswegs der ungeteilten Zustimmung, so doch der Achtung einiger
Parteien; sein politischer Standpunkt wird wenigstens von einigen seiner
Parteigenossen getheilt; sein Einfluß aber ist, am meisten wohl wegen seiner
grenzenlosen Anmaßung, selbst innerhalb seiner eigenen Fraction, gleich Null.
Als er sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen ließ, war man sich
klar darüber, daß er dort die Basis, die allein von ihm beherrschte Domäne
darin zu finden suchte, welche ihm in den parlamentarischen Versammlungen ver¬
sagt blieb. Das Schreiben, in welchem er seinen Wählern die Annahme der
Wahl anzeigte, machte jeden Zweifel unmöglich. Mit bewundernswerther Offen¬
heit gab er zu verstehen, daß er sich um die Details der städtischen Angelegen¬
heiten nicht bekümmere, sondern nur in den Prinzipienfragen als Führer aus¬
treten werde. Kurz, man wußte: in dem Kampfe des ehrgeizigen Radicalen
war es eine ausgemachte Sache, daß mit dem Jahre 1875 für die Stadt
Berlin eine Aera Richter beginnen müsse. Dennoch hatte Niemand erwartet,
daß Herr Richter diesen Plan mit solcher -- nun, sagen wir Rücksichtslosig¬
keit ins Werk setzen werde, wie er es am 7. Januar gethan. Er, der soeben
in die Versammlung Eintretende, überraschte dieselbe mit einer vollständig
ausgearbeiteten neuen Geschäftsordnung. Daß die bestehende Geschäftsord¬
nung reformbedürftig sei, war längst anerkannt; eine besondere Deputation
des Kollegiums hatte die wichtige und schwierige Materie in längeren Ver¬
handlungen räthlich erwogen und das Resultat ihrer Berathungen in einem
Bericht an das Plenum niedergelegt.

Jetzt erscheint ein Neuling, der kaum in den Sitzungssaal hineingerochen,
bezeichnet diesen Bericht als "das Papier nicht werth, auf dem er gedruckt


zwölfjährige rastlose Thätigkeit wird unvergessen bleiben, sie wird erhalten
bleiben im Andenken der Stadt als ein Beispiel von ächtem Bürgerthum,
als ein seltenes Beispiel treuer Hingebung." Warum aber dann diese brüske
Beseitigung eines solchen Mannes? War Herr Kochhann etwa altersschwach
geworden? oder widersetzte er sich der Wiederwahl? oder hatte der „Berg"
ihm wenigstens einen Nachfolger zu geben, der die Gewähr bot für eine gleich
gute Führung der Geschäfte? Nichts von Allem: Herr Kochhann gehört
nicht zur „Fraction," er erlaubt sich sogar, der Ansicht zu sein, daß die Her¬
eintragung politischen Fractionswesens in communale Bürgerschaften dem
Gemeinwesen nicht zum Heile gereichen könne — darum mußte er fallen.

Indeß, man war darauf gefaßt gewesen, daß die Radicalen die Vor¬
steherwahl zu einer Machtprobe benutzen würden. Der Glanzpunkt in der
Inaugurationsfeier der neuen Aera, die Hauptüberraschung stand noch bevor.
Unter den neugewählten Stadtverordneten befindet sich der als Repräsentant
der äußersten Linken der Fortschrittspartei bekannte Eugen Richter. Herr
Richter erfreut sich im Reichstage und Landtage als „Finanzcapaeität," wenn
auch keineswegs der ungeteilten Zustimmung, so doch der Achtung einiger
Parteien; sein politischer Standpunkt wird wenigstens von einigen seiner
Parteigenossen getheilt; sein Einfluß aber ist, am meisten wohl wegen seiner
grenzenlosen Anmaßung, selbst innerhalb seiner eigenen Fraction, gleich Null.
Als er sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen ließ, war man sich
klar darüber, daß er dort die Basis, die allein von ihm beherrschte Domäne
darin zu finden suchte, welche ihm in den parlamentarischen Versammlungen ver¬
sagt blieb. Das Schreiben, in welchem er seinen Wählern die Annahme der
Wahl anzeigte, machte jeden Zweifel unmöglich. Mit bewundernswerther Offen¬
heit gab er zu verstehen, daß er sich um die Details der städtischen Angelegen¬
heiten nicht bekümmere, sondern nur in den Prinzipienfragen als Führer aus¬
treten werde. Kurz, man wußte: in dem Kampfe des ehrgeizigen Radicalen
war es eine ausgemachte Sache, daß mit dem Jahre 1875 für die Stadt
Berlin eine Aera Richter beginnen müsse. Dennoch hatte Niemand erwartet,
daß Herr Richter diesen Plan mit solcher — nun, sagen wir Rücksichtslosig¬
keit ins Werk setzen werde, wie er es am 7. Januar gethan. Er, der soeben
in die Versammlung Eintretende, überraschte dieselbe mit einer vollständig
ausgearbeiteten neuen Geschäftsordnung. Daß die bestehende Geschäftsord¬
nung reformbedürftig sei, war längst anerkannt; eine besondere Deputation
des Kollegiums hatte die wichtige und schwierige Materie in längeren Ver¬
handlungen räthlich erwogen und das Resultat ihrer Berathungen in einem
Bericht an das Plenum niedergelegt.

Jetzt erscheint ein Neuling, der kaum in den Sitzungssaal hineingerochen,
bezeichnet diesen Bericht als „das Papier nicht werth, auf dem er gedruckt


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[0123] zwölfjährige rastlose Thätigkeit wird unvergessen bleiben, sie wird erhalten bleiben im Andenken der Stadt als ein Beispiel von ächtem Bürgerthum, als ein seltenes Beispiel treuer Hingebung." Warum aber dann diese brüske Beseitigung eines solchen Mannes? War Herr Kochhann etwa altersschwach geworden? oder widersetzte er sich der Wiederwahl? oder hatte der „Berg" ihm wenigstens einen Nachfolger zu geben, der die Gewähr bot für eine gleich gute Führung der Geschäfte? Nichts von Allem: Herr Kochhann gehört nicht zur „Fraction," er erlaubt sich sogar, der Ansicht zu sein, daß die Her¬ eintragung politischen Fractionswesens in communale Bürgerschaften dem Gemeinwesen nicht zum Heile gereichen könne — darum mußte er fallen. Indeß, man war darauf gefaßt gewesen, daß die Radicalen die Vor¬ steherwahl zu einer Machtprobe benutzen würden. Der Glanzpunkt in der Inaugurationsfeier der neuen Aera, die Hauptüberraschung stand noch bevor. Unter den neugewählten Stadtverordneten befindet sich der als Repräsentant der äußersten Linken der Fortschrittspartei bekannte Eugen Richter. Herr Richter erfreut sich im Reichstage und Landtage als „Finanzcapaeität," wenn auch keineswegs der ungeteilten Zustimmung, so doch der Achtung einiger Parteien; sein politischer Standpunkt wird wenigstens von einigen seiner Parteigenossen getheilt; sein Einfluß aber ist, am meisten wohl wegen seiner grenzenlosen Anmaßung, selbst innerhalb seiner eigenen Fraction, gleich Null. Als er sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen ließ, war man sich klar darüber, daß er dort die Basis, die allein von ihm beherrschte Domäne darin zu finden suchte, welche ihm in den parlamentarischen Versammlungen ver¬ sagt blieb. Das Schreiben, in welchem er seinen Wählern die Annahme der Wahl anzeigte, machte jeden Zweifel unmöglich. Mit bewundernswerther Offen¬ heit gab er zu verstehen, daß er sich um die Details der städtischen Angelegen¬ heiten nicht bekümmere, sondern nur in den Prinzipienfragen als Führer aus¬ treten werde. Kurz, man wußte: in dem Kampfe des ehrgeizigen Radicalen war es eine ausgemachte Sache, daß mit dem Jahre 1875 für die Stadt Berlin eine Aera Richter beginnen müsse. Dennoch hatte Niemand erwartet, daß Herr Richter diesen Plan mit solcher — nun, sagen wir Rücksichtslosig¬ keit ins Werk setzen werde, wie er es am 7. Januar gethan. Er, der soeben in die Versammlung Eintretende, überraschte dieselbe mit einer vollständig ausgearbeiteten neuen Geschäftsordnung. Daß die bestehende Geschäftsord¬ nung reformbedürftig sei, war längst anerkannt; eine besondere Deputation des Kollegiums hatte die wichtige und schwierige Materie in längeren Ver¬ handlungen räthlich erwogen und das Resultat ihrer Berathungen in einem Bericht an das Plenum niedergelegt. Jetzt erscheint ein Neuling, der kaum in den Sitzungssaal hineingerochen, bezeichnet diesen Bericht als „das Papier nicht werth, auf dem er gedruckt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/123>, abgerufen am 01.07.2024.