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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Eile ohne das volle Maß der Ueberlegung begonnen wird, das er erheischt.
Der alte Bau kann unsere Zukunft nicht tragen, aber er kann uns sehr wohl
noch einige Jahre tragen, wenn diese Jahre dienlich sind zur desto besseren
.Anlegung des Neubaus. Die Uebertreibung einer an sich ja - nothwendigen
Eile und Arbeitsüberhäufung läßt sich nur aus dein epidemischen Charakter
erklären, den alle großen Zeitrichtungen annehmen, ein Charakter, der wieder¬
um nur zu erklären ist aus der Widerstandsunfähigkeit der großen Masse
der unselbständigen Naturen. Es ist der alltägliche, aber stets unerfreuliche
Anblick, wenn eine Menge, die irgendwo in geschlossenem Raume versammelt
war, mit einem Male nach dem Ausgang drängt. --

Inzwischen giebt es allerdings Leute, die sich bemühen, ad oculos zu
beweisen, daß mit der preußischen Verwaltungsreform keinen Tag mehr zu
zögern ist. Am Schlüsse des vorigen Jahres hat die vorschriftsmäßige Par-
tialerneuerung der Berliner Stadtverordneten stattgefunden. Diese Versamm¬
lung, die seit vierzehn Jahren etwa eine fortschrittliche Majorität und Herrn
Virchow als deren Autorität besitzt, hat von ihrer Majorität neuerdings eine
sogenannte Bergpartei sich absondern sehen, und die letzten Wahlen haben
dieser Partei die Majorität verschafft. Am 7. Januar wurden die neuen
Mitglieder eingeführt, und die neue Majorität setzte sogleich den verdienten
fortschrittlichen Vorsteher der Versammlung, Herrn Kochhann, der diesen Posten
zwölf Jahre lang mit allgemeiner Anerkennung bekleidet, ab. Darauf ließ
sie den leitenden Tribunen, den sie sich erkoren, Herrn Eugen Richter, sich
mit einer neuen Geschäftsordnung präsentiren, die Niemand außer dem Ver¬
sasser kannte, für die aber unbesehens eine Commission beschlossen werden sollte.
Auf die Aeußerungen des Befremdens, welche gegen dieses Verlangen aus der
Minorität laut wurden, antwortete die Majorität mit solchen Grobheiten
und solchem Skandal, daß allerdings der Anfang vom Ende sich nicht ver¬
kennen läßt. Mit dieser Art von Bildung der Gemeindevertretung, mit dieser
Art von Theilung der Befugnisse zwischen Magistrat und Stadtverordneten
geht es nicht mehr. Wenn man den Bericht über diese Sitzung liest, macht
es einen eigenthümlichen Eindruck, wenn zwischen dem Skandal der
Oberbürgermeister, ein feiner, edler Mann, wie ein Grieche unter Barbaren
erscheint, um aus Anlaß der Einführung neue.r Stadträthe zwischen dem
wüsten Lärm Worte der Bildung vernehmen zu lassen. Mit,dem Verlangen,
welches diese Scenen hervorrufen, harmonirt allerdings und befriedigt es,
wenn wir lesen, daß der Minister des Innern die Oberbürgermeister zu Con-
ferenzen über die Reform der Städteordnung zusammenberufen hat, eine Reform,
die wir bei aller Nothwendigkeit, nach dem oben Gesagten, nicht gern über¬
eilt sehen möchten. --

Im Prozeß Arnim ist im letzten Augenblick vor Ablauf der zulässigen


Grmzbote" l. 1875. 15

Eile ohne das volle Maß der Ueberlegung begonnen wird, das er erheischt.
Der alte Bau kann unsere Zukunft nicht tragen, aber er kann uns sehr wohl
noch einige Jahre tragen, wenn diese Jahre dienlich sind zur desto besseren
.Anlegung des Neubaus. Die Uebertreibung einer an sich ja - nothwendigen
Eile und Arbeitsüberhäufung läßt sich nur aus dein epidemischen Charakter
erklären, den alle großen Zeitrichtungen annehmen, ein Charakter, der wieder¬
um nur zu erklären ist aus der Widerstandsunfähigkeit der großen Masse
der unselbständigen Naturen. Es ist der alltägliche, aber stets unerfreuliche
Anblick, wenn eine Menge, die irgendwo in geschlossenem Raume versammelt
war, mit einem Male nach dem Ausgang drängt. —

Inzwischen giebt es allerdings Leute, die sich bemühen, ad oculos zu
beweisen, daß mit der preußischen Verwaltungsreform keinen Tag mehr zu
zögern ist. Am Schlüsse des vorigen Jahres hat die vorschriftsmäßige Par-
tialerneuerung der Berliner Stadtverordneten stattgefunden. Diese Versamm¬
lung, die seit vierzehn Jahren etwa eine fortschrittliche Majorität und Herrn
Virchow als deren Autorität besitzt, hat von ihrer Majorität neuerdings eine
sogenannte Bergpartei sich absondern sehen, und die letzten Wahlen haben
dieser Partei die Majorität verschafft. Am 7. Januar wurden die neuen
Mitglieder eingeführt, und die neue Majorität setzte sogleich den verdienten
fortschrittlichen Vorsteher der Versammlung, Herrn Kochhann, der diesen Posten
zwölf Jahre lang mit allgemeiner Anerkennung bekleidet, ab. Darauf ließ
sie den leitenden Tribunen, den sie sich erkoren, Herrn Eugen Richter, sich
mit einer neuen Geschäftsordnung präsentiren, die Niemand außer dem Ver¬
sasser kannte, für die aber unbesehens eine Commission beschlossen werden sollte.
Auf die Aeußerungen des Befremdens, welche gegen dieses Verlangen aus der
Minorität laut wurden, antwortete die Majorität mit solchen Grobheiten
und solchem Skandal, daß allerdings der Anfang vom Ende sich nicht ver¬
kennen läßt. Mit dieser Art von Bildung der Gemeindevertretung, mit dieser
Art von Theilung der Befugnisse zwischen Magistrat und Stadtverordneten
geht es nicht mehr. Wenn man den Bericht über diese Sitzung liest, macht
es einen eigenthümlichen Eindruck, wenn zwischen dem Skandal der
Oberbürgermeister, ein feiner, edler Mann, wie ein Grieche unter Barbaren
erscheint, um aus Anlaß der Einführung neue.r Stadträthe zwischen dem
wüsten Lärm Worte der Bildung vernehmen zu lassen. Mit,dem Verlangen,
welches diese Scenen hervorrufen, harmonirt allerdings und befriedigt es,
wenn wir lesen, daß der Minister des Innern die Oberbürgermeister zu Con-
ferenzen über die Reform der Städteordnung zusammenberufen hat, eine Reform,
die wir bei aller Nothwendigkeit, nach dem oben Gesagten, nicht gern über¬
eilt sehen möchten. —

Im Prozeß Arnim ist im letzten Augenblick vor Ablauf der zulässigen


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[0121] Eile ohne das volle Maß der Ueberlegung begonnen wird, das er erheischt. Der alte Bau kann unsere Zukunft nicht tragen, aber er kann uns sehr wohl noch einige Jahre tragen, wenn diese Jahre dienlich sind zur desto besseren .Anlegung des Neubaus. Die Uebertreibung einer an sich ja - nothwendigen Eile und Arbeitsüberhäufung läßt sich nur aus dein epidemischen Charakter erklären, den alle großen Zeitrichtungen annehmen, ein Charakter, der wieder¬ um nur zu erklären ist aus der Widerstandsunfähigkeit der großen Masse der unselbständigen Naturen. Es ist der alltägliche, aber stets unerfreuliche Anblick, wenn eine Menge, die irgendwo in geschlossenem Raume versammelt war, mit einem Male nach dem Ausgang drängt. — Inzwischen giebt es allerdings Leute, die sich bemühen, ad oculos zu beweisen, daß mit der preußischen Verwaltungsreform keinen Tag mehr zu zögern ist. Am Schlüsse des vorigen Jahres hat die vorschriftsmäßige Par- tialerneuerung der Berliner Stadtverordneten stattgefunden. Diese Versamm¬ lung, die seit vierzehn Jahren etwa eine fortschrittliche Majorität und Herrn Virchow als deren Autorität besitzt, hat von ihrer Majorität neuerdings eine sogenannte Bergpartei sich absondern sehen, und die letzten Wahlen haben dieser Partei die Majorität verschafft. Am 7. Januar wurden die neuen Mitglieder eingeführt, und die neue Majorität setzte sogleich den verdienten fortschrittlichen Vorsteher der Versammlung, Herrn Kochhann, der diesen Posten zwölf Jahre lang mit allgemeiner Anerkennung bekleidet, ab. Darauf ließ sie den leitenden Tribunen, den sie sich erkoren, Herrn Eugen Richter, sich mit einer neuen Geschäftsordnung präsentiren, die Niemand außer dem Ver¬ sasser kannte, für die aber unbesehens eine Commission beschlossen werden sollte. Auf die Aeußerungen des Befremdens, welche gegen dieses Verlangen aus der Minorität laut wurden, antwortete die Majorität mit solchen Grobheiten und solchem Skandal, daß allerdings der Anfang vom Ende sich nicht ver¬ kennen läßt. Mit dieser Art von Bildung der Gemeindevertretung, mit dieser Art von Theilung der Befugnisse zwischen Magistrat und Stadtverordneten geht es nicht mehr. Wenn man den Bericht über diese Sitzung liest, macht es einen eigenthümlichen Eindruck, wenn zwischen dem Skandal der Oberbürgermeister, ein feiner, edler Mann, wie ein Grieche unter Barbaren erscheint, um aus Anlaß der Einführung neue.r Stadträthe zwischen dem wüsten Lärm Worte der Bildung vernehmen zu lassen. Mit,dem Verlangen, welches diese Scenen hervorrufen, harmonirt allerdings und befriedigt es, wenn wir lesen, daß der Minister des Innern die Oberbürgermeister zu Con- ferenzen über die Reform der Städteordnung zusammenberufen hat, eine Reform, die wir bei aller Nothwendigkeit, nach dem oben Gesagten, nicht gern über¬ eilt sehen möchten. — Im Prozeß Arnim ist im letzten Augenblick vor Ablauf der zulässigen Grmzbote» l. 1875. 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/121>, abgerufen am 01.07.2024.