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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Es ist eine der wenigen heilsamen Wirkungen, welche dem Schwurgericht
ernstlich nachzurühmen sind, daß es dazu beigetragen, die Gemüther innerhalb
und außerhalb der juristischen Welt von dem Glauben an die Unentbehrlich¬
st der Berufung zu entwöhnen. Aber freilich, wenn ein einziges Gerichts¬
verfahren die Strafsachen endgültig entscheiden soll, so muß die Beschaffenheit
der Gerichte alle erreichbaren Bürgschaften bieten. Das war bei einer so
ungleichartigen Gestalt und bei einer so unorganischen Gliederung der Straf¬
gerichte, wie sie in dem Entwurf der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses
auftreten, nicht zu leisten. Es wäre aber sehr zu bedauern, wenn der Ent¬
wurf der Strafprozeßordnung im Sinne der Reichstagsredner abgeändert
würde, welche, aus Verzweiflung, die gute Construction finden oder, wenn
gefunden, dieselbe herstellen zu können, zur Berufung zurück wollten. Man
hat viel davon gesprochen, die ausreichenden Kräfte zur Besetzung des Laien¬
richteramtes nicht finden zu können. Es ist aber noch viel mißlicher, den
Stand der besoldeten Berufsrichter zu einem Heer anwachsen zu lassen. Man
könnte in den Provinzen, wo die Kräfte für das Laienrichteramt augenblick¬
lich zu fehlen scheinen, einstweilen mehr besoldete Berufsrichter anstellen, bei
Erledigung der übernormalmäßigen Richterstellen aber den Antrag der Pro-
vinzialvertretung auf Einführung der Laienrichter erwarten. Jedenfalls führt
die materielle Appellation nur in anderer Weise, als die Besetzung der Richter-
collegien mit lauter Berufsrichtern, eine Ueberfüllung des Nichterstandes, ein
richterliches Proletariat -- wenn man nicht etwa einen Justizhaushalt von
ungemessener Höhe haben will -- und eine Verschwendung der richterlichen
Arbeit herbei, abgesehen von dem schon angedeuteten nachtheiligen Einfluß
auf den Eindruck, die Sicherheit und das Selbstgefühl der Rechtspflege.

Wir kommen zu dem dritten Probleme, welches die neue Strafprozeß,
ordnung zu lösen hatte, vielleicht dem interessantesten, das aber bei näherer
Betrachtung sich ganz als Ausfluß der Frage nach der Gestaltung des Laien¬
elementes darstellt. Dieses dritte Problem enthält die Frage, ob das Straf-
verfahren als Parteiprozeß durchzubilden ist und, bei Verneinung dieser ersten
Frage, die zweite, wo der Einschnitt zu machen ist zwischen den verschiedenen
Theilen des strafgerichtlichen Verfahrens. Denn die Herstellung der Einheit
des Strafverfahrens durch völlige Beseitigung des Anklageprozesses befürwortet
heute Niemand mehr. Wir werden gleich sehen, wie dieses dritte Problem
K"nz und gar hervorgeht aus der Frage nach der Gestaltung der Laien¬
elemente in der Strafrechtspflege. Weist man nämlich das Schöffengericht
zurück und will man mindestens für die sogenannten schweren Straffälle bei
dem Geschwornengericht stehen bleiben, so ist doch die Beibehaltung des so¬
genannten deutsch-französischen Schwurgerichts angesichts der ungleichartigen
Ausbildung und Handhabung desselben, welche nur gleichartig ist in der


Es ist eine der wenigen heilsamen Wirkungen, welche dem Schwurgericht
ernstlich nachzurühmen sind, daß es dazu beigetragen, die Gemüther innerhalb
und außerhalb der juristischen Welt von dem Glauben an die Unentbehrlich¬
st der Berufung zu entwöhnen. Aber freilich, wenn ein einziges Gerichts¬
verfahren die Strafsachen endgültig entscheiden soll, so muß die Beschaffenheit
der Gerichte alle erreichbaren Bürgschaften bieten. Das war bei einer so
ungleichartigen Gestalt und bei einer so unorganischen Gliederung der Straf¬
gerichte, wie sie in dem Entwurf der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses
auftreten, nicht zu leisten. Es wäre aber sehr zu bedauern, wenn der Ent¬
wurf der Strafprozeßordnung im Sinne der Reichstagsredner abgeändert
würde, welche, aus Verzweiflung, die gute Construction finden oder, wenn
gefunden, dieselbe herstellen zu können, zur Berufung zurück wollten. Man
hat viel davon gesprochen, die ausreichenden Kräfte zur Besetzung des Laien¬
richteramtes nicht finden zu können. Es ist aber noch viel mißlicher, den
Stand der besoldeten Berufsrichter zu einem Heer anwachsen zu lassen. Man
könnte in den Provinzen, wo die Kräfte für das Laienrichteramt augenblick¬
lich zu fehlen scheinen, einstweilen mehr besoldete Berufsrichter anstellen, bei
Erledigung der übernormalmäßigen Richterstellen aber den Antrag der Pro-
vinzialvertretung auf Einführung der Laienrichter erwarten. Jedenfalls führt
die materielle Appellation nur in anderer Weise, als die Besetzung der Richter-
collegien mit lauter Berufsrichtern, eine Ueberfüllung des Nichterstandes, ein
richterliches Proletariat — wenn man nicht etwa einen Justizhaushalt von
ungemessener Höhe haben will — und eine Verschwendung der richterlichen
Arbeit herbei, abgesehen von dem schon angedeuteten nachtheiligen Einfluß
auf den Eindruck, die Sicherheit und das Selbstgefühl der Rechtspflege.

Wir kommen zu dem dritten Probleme, welches die neue Strafprozeß,
ordnung zu lösen hatte, vielleicht dem interessantesten, das aber bei näherer
Betrachtung sich ganz als Ausfluß der Frage nach der Gestaltung des Laien¬
elementes darstellt. Dieses dritte Problem enthält die Frage, ob das Straf-
verfahren als Parteiprozeß durchzubilden ist und, bei Verneinung dieser ersten
Frage, die zweite, wo der Einschnitt zu machen ist zwischen den verschiedenen
Theilen des strafgerichtlichen Verfahrens. Denn die Herstellung der Einheit
des Strafverfahrens durch völlige Beseitigung des Anklageprozesses befürwortet
heute Niemand mehr. Wir werden gleich sehen, wie dieses dritte Problem
K»nz und gar hervorgeht aus der Frage nach der Gestaltung der Laien¬
elemente in der Strafrechtspflege. Weist man nämlich das Schöffengericht
zurück und will man mindestens für die sogenannten schweren Straffälle bei
dem Geschwornengericht stehen bleiben, so ist doch die Beibehaltung des so¬
genannten deutsch-französischen Schwurgerichts angesichts der ungleichartigen
Ausbildung und Handhabung desselben, welche nur gleichartig ist in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/433>, abgerufen am 28.07.2024.