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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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hat, vermochte sich von seinen Vorurtheilen für dessen Vergangenheit frei zu
machen, und von seinen politischen Sympathien und Antipathien, welche dessen
gegenwärtige Zustände ihm einflößen. Man Pflegt, indem man über Italien
spricht, nicht über Gemeinplätze hinauszukommen. Entweder wird es bewun¬
dert, oder es wird verachtet; aber wenig Schriftsteller, Italiener ebensowohl
wie Ausländer, können sich rühmen, es wirklich zu kennen, und vermögen
folglich auch nicht, ihre Beobachtungen durch eine genügende Menge erwie¬
sener Thatsachen zu begründen, um wirklich belehrend und verläßlich über das¬
selbe zu schreiben. Die Einen werden von ihrer Begeisterung hingerissen,
die Andern blendet ihre Passion für Alles, was ihnen fremdartig entgegen¬
tritt. Andere wieder durchreisen unser Land mit irgend einem speciellen
Zwecke, und kümmern sich um nichts, was nicht in dessen Sphäre liegt. So
kommen die Geschäftsreisenden, die Industriellen, die Philologen, die Archäo¬
logen, die Künstler, in einem Worte alle die Specialisten, deren jeder unser
Land in der Weite und Breite auf der Suche nach einem andern etwa ver¬
stecktem goldnen Vließe durchforscht; aber wenig Reisende, italienische und
fremde, sieht man, welche Italien in seinem ihm eigenthümlichen, realen und
habituellen Leben zu erkunden suchten. Für die Fremden hat es ja im Grunde
keine verdrießlichen Consequenzen. wenn sie uns nicht kennen, wie wir wirk¬
lich sind. Aber für uns Italiener ist die Unkenntniß unserer selbst eine
schwerwiegende Unzuträglichkeit.

Vor einiger Zeit veröffentlichte ein schätzenswerther Schriftsteller, der
Advocat Carlo Lozzi zwei Bände "I/o^lo in Italie" betitelt. Er unter¬
nahm in diesem Werke uns nachzuweisen, wie viel Nachlässigkeit noch in Ita¬
lien vorhanden sei, und wie großen Schaden uns diese zufüge. Die Liebe
zum Guten hat Lozzi manchen beredten Passus eingegeben, und das Buch
hat durch die vielen gesunden Bemerkungen, welche durch dasselbe zerstreut
sind, gewiß seinen Nutzen. Aber im Allgemeinen hat das Werk Lozzi's doch
eine zu beschränkte Anzahl neuer Thatsachen beigebracht, als daß es den ge¬
bildeten Italiener über Unbekanntes und Unvermuthetes hätte aufklären
können. Er gab uns in der Hauptsache ein moralisches Buch, aber es be¬
dürfte eines anderen Buches, um uns zur Kenntniß unserer Lebenseigenthüm¬
lichkeiten zu bringen. Es giebt zahlreiche Führer durch unsere Städte und
Monumente, aber es giebt keine solchen, welche den Weg zu unserm häus¬
lichen Herd, in unsre Arbeitsstätten, unsre Bauernhöfe, kurz, in die reale
Welt des Jtalieners zeigt, in der sich sein actuelles, materielles, moralisches
und intellektuelles Leben bethätigt. Zwar ist es schwer, ein solches Buch zu
schreiben. Es würde Zeit dazu gehören, und das Zusammenwirken Vieler.
Aber man kann den Anfang dazu machen, dadurch, daß man die Materia¬
lien dazu zusammenschichtet und sie zweckentsprechend zu ordnen sucht. Und


hat, vermochte sich von seinen Vorurtheilen für dessen Vergangenheit frei zu
machen, und von seinen politischen Sympathien und Antipathien, welche dessen
gegenwärtige Zustände ihm einflößen. Man Pflegt, indem man über Italien
spricht, nicht über Gemeinplätze hinauszukommen. Entweder wird es bewun¬
dert, oder es wird verachtet; aber wenig Schriftsteller, Italiener ebensowohl
wie Ausländer, können sich rühmen, es wirklich zu kennen, und vermögen
folglich auch nicht, ihre Beobachtungen durch eine genügende Menge erwie¬
sener Thatsachen zu begründen, um wirklich belehrend und verläßlich über das¬
selbe zu schreiben. Die Einen werden von ihrer Begeisterung hingerissen,
die Andern blendet ihre Passion für Alles, was ihnen fremdartig entgegen¬
tritt. Andere wieder durchreisen unser Land mit irgend einem speciellen
Zwecke, und kümmern sich um nichts, was nicht in dessen Sphäre liegt. So
kommen die Geschäftsreisenden, die Industriellen, die Philologen, die Archäo¬
logen, die Künstler, in einem Worte alle die Specialisten, deren jeder unser
Land in der Weite und Breite auf der Suche nach einem andern etwa ver¬
stecktem goldnen Vließe durchforscht; aber wenig Reisende, italienische und
fremde, sieht man, welche Italien in seinem ihm eigenthümlichen, realen und
habituellen Leben zu erkunden suchten. Für die Fremden hat es ja im Grunde
keine verdrießlichen Consequenzen. wenn sie uns nicht kennen, wie wir wirk¬
lich sind. Aber für uns Italiener ist die Unkenntniß unserer selbst eine
schwerwiegende Unzuträglichkeit.

Vor einiger Zeit veröffentlichte ein schätzenswerther Schriftsteller, der
Advocat Carlo Lozzi zwei Bände „I/o^lo in Italie" betitelt. Er unter¬
nahm in diesem Werke uns nachzuweisen, wie viel Nachlässigkeit noch in Ita¬
lien vorhanden sei, und wie großen Schaden uns diese zufüge. Die Liebe
zum Guten hat Lozzi manchen beredten Passus eingegeben, und das Buch
hat durch die vielen gesunden Bemerkungen, welche durch dasselbe zerstreut
sind, gewiß seinen Nutzen. Aber im Allgemeinen hat das Werk Lozzi's doch
eine zu beschränkte Anzahl neuer Thatsachen beigebracht, als daß es den ge¬
bildeten Italiener über Unbekanntes und Unvermuthetes hätte aufklären
können. Er gab uns in der Hauptsache ein moralisches Buch, aber es be¬
dürfte eines anderen Buches, um uns zur Kenntniß unserer Lebenseigenthüm¬
lichkeiten zu bringen. Es giebt zahlreiche Führer durch unsere Städte und
Monumente, aber es giebt keine solchen, welche den Weg zu unserm häus¬
lichen Herd, in unsre Arbeitsstätten, unsre Bauernhöfe, kurz, in die reale
Welt des Jtalieners zeigt, in der sich sein actuelles, materielles, moralisches
und intellektuelles Leben bethätigt. Zwar ist es schwer, ein solches Buch zu
schreiben. Es würde Zeit dazu gehören, und das Zusammenwirken Vieler.
Aber man kann den Anfang dazu machen, dadurch, daß man die Materia¬
lien dazu zusammenschichtet und sie zweckentsprechend zu ordnen sucht. Und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/34>, abgerufen am 28.12.2024.